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Gegendemonstration in Berlin zu den rechtsextremen Demonstrationen in Marzahn gegen ein Flüchtlingsheim.

© dpa

Demos gegen Flüchtlingsheime in Berlin: "Wir dürfen uns nicht in innere Container zurückziehen"

Können 12.000 Flüchtlinge in einem Jahr die Integrationsfähigkeit Berlins übersteigen? So lange ist es noch nicht her, dass Millionen Deutsche selbst auf der Flucht waren. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Keine Stadt in Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten einen so tiefgreifenden Wandel der Bevölkerung erlebt wie Berlin. Seit der Öffnung der Mauer haben mehr als anderthalb Millionen Menschen die Stadt verlassen, gleich viele kamen. Seit einigen Jahren übersteigt die Zahl der Zuzüge die der Wegzüge deutlich. Junge, Alte, Eingesessene und Neubürger, Deutsche, Ausländer haben gemeinsam aus dieser Umwälzung des Überkommenen Kraft gewonnen, haben der Stadt eine lang vermisste Dynamik, Schwung und Attraktivität zurückgegeben. Und nun sollen 12 000 Flüchtlinge in einem Jahr die Integrationsfähigkeit der Stadt übersteigen, sind Anlass für Demonstrationen unter dem Motto „Keine Asylanten im Kiez“, bringen Rechtsextremen einen Aufschwung, von dem die gerade in Berlin bisher nicht einmal zu träumen wagten?

Kein Zweifel, da ist etwas schiefgelaufen in Berlin in den letzten Jahren, und das hat nicht nur mit der fehlenden Willkommenskultur zu tun, die Deutschland insgesamt, nicht nur seiner Hauptstadt, im internationalen Urteil schon länger als Manko angekreidet wird. Aber wenn etwas schiefläuft, wenn aus Miteinander Gegeneinander wird, weil die einen Angst vor den Fremden und die anderen Angst vor den Deutschen haben, sind vermutlich nicht nur die Menschen zu dumm, sondern ist sehr wahrscheinlich die Politik auch zu lethargisch, zu bürokratisch, zu empathiearm gewesen. Das soll sich nun ändern. Sozialsenator Mario Czaja hat einen „Berliner Beirat für Zusammenhalt“ berufen. Vier altgediente Politiker, der ehemalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen, die Ex-Sozialsenatorinnen Ingrid Stahmer und Heidi Knake-Werner sowie der frühere Justizsenator Wolfgang Wieland, sollen bei Fragen aktueller Flüchtlingspolitik beraten, sagt Czaja.

Eine Frage der Angst

Können die Wunder bewirken? Eberhard Diepgen, in seiner Amtszeit ja eher der Typus zögerlicher Politiker, hat eine gute Antwort auf diese Frage gefunden: „Politisch Aktive haben immer Angst. Die haben wir nicht mehr.“ Aus dem fernen Straßburg hat den vieren gerade Papst Franziskus in einer Rede vor dem Europarat das passende Stichwort geliefert, als er sagte, Flüchtlinge „brauchen zunächst das Lebensnotwendige; hauptsächlich aber haben sie es nötig, dass ihre Menschenwürde anerkannt wird“. Die deutsche, nicht nur die Berliner Diskussion über den Umgang mit Flüchtlingen leidet unter der Überlagerung der eigentlichen Dramatik durch Schlagwörter wie Wohlstandsasylanten, Sozialbetrüger und Kleinkriminelle. Das alles gibt es, aber es ist alles andere als die Regel. Die Politik muss sich zum Schutz des Rechtsstaates konsequent damit auseinandersetzen, aber auch damit Zehntausende, die unter Lebensgefahr aus Bürgerkriegsregionen geflohen sind, nicht hier unter einen neuen psychischen Verfolgungsdruck kommen, wo sie doch gerade erst das nackte Leben gerettet haben.

Auch hier müssen die vier Altgedienten helfen. Sie können den Bezirken beibringen, wie man mit Bürgerängsten umgeht. Darauf drängen, dass zügig und umfassend informiert wird. Dass manchmal schnelle Hilfe unbequem sein kann für alle Beteiligten. Vor allem aber, dass wir uns nicht in unsere inneren Container zurückziehen dürfen, nur weil wir keine aus Stahl nebenan haben wollen. So lange ist es noch nicht her, dass Millionen Deutsche auf der Flucht waren.

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