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Berlin: Der Bauch stimmt mit

Westlich von Berlin und nördlich von Potsdam hat sich das Bürgertum in Brandenburg eingerichtet. Man schätzt Angela Merkel und das „Es-geht-uns-gut“-Gefühl, doch wahre Linke gibt es auch noch.

Edmund Müller hat es nicht zum Gesprächsthema im Berliner Umland gebracht. Dabei wirbt der unabhängige Bundestagskandidat auf seinen Plakaten in Groß Glienicke oder Neu Fahrland mit einem durchaus originellen Ansatz: Er sei für „feminismusfreie direkte Demokratie“, heißt es auf Müllers Plakaten.

Derart schräge Thesen passen nicht so ganz in die bürgerlichen Gegenden zwischen dem Berliner Stadtrand und der Stadt Potsdam. Ginge es bloß nach Plakatpräsenz, hätte in dem locker besiedelten Gebiet zwischen der brandenburgischen und der Bundeshauptstadt Katharina Reiche die Wahl schon gewonnen. Reiche, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesumweltministerium und Kreischefin der Potsdamer CDU, steht in Wahlkreis ein bisschen für das Lebensgefühl, an das Angela Merkel appelliert hat und auf das sie setzt: Uns geht’s gut.

Mild scheint die Mittagssonne am Wahltag, und wenn man die Leute fragt, was ihnen denn wichtig gewesen sei für ihre Entscheidung, dann sagen sie zwar nicht, dass alles bleiben solle, wie es ist. Aber sie sagen, die „großen Linien“ seien wichtig – und dafür stehen Merkel und stellvertretend Katherina Reiche.

Ein Paar in Neu Fahrland, wie so viele in der Gegend aus dem Westen der Republik zugezogen und lieber im Umland als in Berlin zu Hause, bringt es auf den Begriff: Es gehe doch auch darum, „wer uns repräsentiert in der Welt“. Die Frau im Tweedjackett muss, um verstanden zu werden, Peer Steinbrücks Finger gar nicht mehr erwähnen. Sie wolle nicht, dass ihre Tochter solche Gesten mache, sie wolle das auch nicht bei Politikern, sagt sie, und sie ist von Steinbrücks Alter weit entfernt. Ihr Mann mit Hut findet an Merkel gut, dass sie sich „ihre Stellung hart erkämpft“ habe – ohne Quote. Die beiden erklären dann, wie sich politische Inhalte für sie sortieren – sie sagt, wahrscheinlich wäre eine große Koalition gut, damit „die Schere zwischen Arm und Reich nicht noch größer“ werde.

Vielleicht muss man sich die politische Geografie der Gegend zwischen dem Berliner Westen und dem Potsdamer Norden so vorstellen wie die Verlängerung von Kladow und Steglitz-Zehlendorf in diese Kulturlandschaft hinein: wertebewusstes Bürgertum. Was bedeutet: SPD- und Grünen-Wähler tragen die gleichen Outdoor-Jacken wie die CDU-Sympathisanten und sind kaum seltener zu finden. Immerhin hat die SPD-Politikerin Andrea Wicklein den Wahlkreis bislang dreimal direkt gewonnen – Reiche holte ihr Mandat stets über die Liste. Die Frage nach dem wichtigsten Kriterium für die Wahl beantwortet ein Dreitagebart-Träger in Neu Fahrland umgehend mit den beiden Worten „soziale Gerechtigkeit“. Seine Frau führt aus, ihr sei nun mal die Umwelt wichtig, damit habe sie auch beruflich in Berlin zu tun.

Die beiden verkörpern den Traum von der rot-grünen Koalition, bleiben in der Gegend und in völlig unrepräsentativen Gesprächen mit gesprächswilligen Wählern aber etwas in der Minderheit. Der mittelalte Mann mit cooler Mütze auf den Locken, der mit seiner Begleiterin gerade einem wirklich sehr teuren britischen Sportwagen mit Potsdamer Kennzeichen entstiegen ist, erzählt bereitwillig, er komme „viel in der Welt herum“ und wisse daher, wie gut es den Deutschen gehe. „Jeder in seiner Schicht“ habe sein Auskommen hier, sagt er, und dafür sei „die Wirtschaft“ entscheidend. Kitas, Bildung – das hält er für weniger relevant. Seine Frau auch.

Marquardt, ebenfalls im westlichen Umland von Berlin gelegen und expeditionsfreudigen Berliner Kunstfreaks durch die „Rohkunstbau“-Ausstellungen geläufig, gibt gesprächsweise die gleichen Trends wieder. Die Mutter, die mit der Tochter wählen gegangen ist, sagt, sie habe „die“ gewählt, die dafür sorgen wollen, dass sie ihren Job „im Gesundheitsbereich“ noch lange weiter machen könne. Dann erklärt sie, warum sie die von SPD, Grünen und Linken befürwortete Bürgerversicherung nicht will. Die Tochter, Erzieherin in Ausbildung, argumentiert deutlich linker für die Bedeutung, die Bildung in der Politik bekommen solle.

Allerdings gehört auch Potsdam-Mittelmark zu Brandenburg, und deshalb gibt es nicht wenige, die aus Überzeugung und Passion links wählen. Oder die Linke? Na ja, sagt der junge Mann mit den ganz kurzen Haaren bedächtig, die Kanzlerin profitiere derzeit doch wohl vor allem von der Arbeit ihres Vorgängers – sprich von den Hartz-Reformen. Wenn es für ihn ein Kriterium über allen anderen gebe, sei das der Mindestlohn – nicht für das ganze Land, aber doch so, dass man von seiner Arbeit leben könne, auch in der Uckermark. So sehe er das, und er sei ein politischer Mensch.

Ein paar Meter weiter feiern sie noch ein bisschen „Herbstfest“. Der Grill raucht, das Bier ist kalt, die Nacht fern.

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