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DER BEWOHNER: DER BEWOHNER

Die Lage könnte besser nicht sein. Links ist das Ministerium für Landwirtschaft, einmal rechts herum liegt das Arbeitsministerium.

Die Lage könnte besser nicht sein. Links ist das Ministerium für Landwirtschaft, einmal rechts herum liegt das Arbeitsministerium. Und dazwischen dieses Haus, sechs Stockwerke hoch, mit Hof und Anbau und 133 Räumen, und Jürgen Seydewitz, der unten vor dem Eingang steht, besitzt den Schlüssel zu ihnen allen.

Das Haus ist eine Schule, genauer: die Grundschule am Brandenburger Tor, und Seydewitz, 51, ist ihr Hausmeister, aber selbst ein Großgrundbesitzer könnte nicht stolzer sein. „Mein Reich“, sagt er und öffnet die Tür zu seiner Werkstatt im Erdgeschoss, und als es um die benachbarten Ministerien geht, da sagt er: ja, tolle Nachbarschaft, klar, aber: „Wir waren zuerst da.“

Wir, das sind die Schule und Seydewitz – ein unauflösliches Gespann. Vor 20 Jahren trat Seydewitz seine Stelle an, inzwischen wurden die ersten Kinder von Kindern aus seiner Anfangszeit hier eingeschult. Seydewitz selbst hat mehr Zeit als jeder andere in dem Haus verbracht: Links von dem großen silbernen Schild mit der Aufschrift „Grundschule am Brandenburger Tor“ am Eingang hängt ein kleines gelbes, darauf steht der Name Seydewitz. Ganz oben im Schulhaus hat der Hausmeister seine Wohnung, und wenn er morgens in seinem Schlafzimmer das Fenster öffnet, schaut er direkt auf den Pausenhof, den er später sauber machen wird.

In einer Schule leben – seltsam findet er das eigentlich nicht. Viel merkwürdiger, sagt er, sei es doch, in einem Mietshaus zu sein, wo ständig die Nachbarn wechselten und man nicht wisse, wem man morgens im Treppenhaus begegne. Er weiß das ganz genau – 480 Kinder sind es. Schwierig nur, wenn sie auch am Wochenende vor der Tür stehen, vorzugsweise sonntags um zehn. Mütze, Ball, Heft vergessen, „Herr Seydewitz, kannst du mir mal schnell aufmachen?“ Da bleibt er streng, es geht nicht anders. „Sonst reißt das ein und dann ...“ Er will den Satz gar nicht zu Ende denken, dafür hat er seine Frau und sein Motorrad, die Zeit mit den beiden, viel zu gern.

Seine Frau hat sich ab und zu ein bisschen beschwert. Wenn er abends nicht zu Hause war, dann gruselte sie sich, so allein im sechsten Stock. Und der Sohn, der hier selbst zur Schule ging, ärgerte sich manchmal, dass er sich besser auskannte als mancher Lehrer. „Weißt du, wo ...?“, war ein Satz, den er oft hörte.

Aber ganz konnten sich auch die beiden dem „Wir, die Schule“-Gefühl nicht entziehen. Eines Tages, es gab im Haus schon eine Lautsprecheranlage und für den Fall, dass ein Verrückter in die Schule eindringe, einen speziellen Amokton, da baute der Sohn, ein Hobby-DJ, seine Musikanlage im Direktorenzimmer auf und der Direktor sprach mit seiner Hilfe einen Text ein, beruhigender und sinnvoller als das Tonsignal. Und neulich, als Seydewitz’ Frau nach Hause kam, da sagte sie: „Da stimmt was nicht, da ist so ein komisches Geräusch.“ Sie hatte recht: In einem anderen Gebäudetrakt war ein Aufzug kaputt gegangen und öffnete und schloss unentwegt die Türen. Inzwischen, sagt der Hausmeister zufrieden, habe eben auch seine Frau ein Ohr für die Schule. Verena Friederike Hasel

Jürgen Seydewitz, 51, seit 1992 Hausmeister an der Grundschule am Brandenburger Tor in Mitte

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