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Berlin: Der Bürger als Rebell

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Martin Lindner sieht sich als Kämpfer gegen altes Denken in Berlin

Martin Lindner holt mit den Armen weit aus, wenn er spricht, und wippt mit dem Oberkörper nach vorne. Wenn das Abgeordnetenhaus ein Orchester wäre, könnte man sich den 39-Jährigen wunderbar als Kapellmeister vorstellen. Martin Lindner dirigiert als Vorsitzender die 15-köpfige FDP-Fraktion, hauptsächlich aber möchte er all denen den Marsch blasen, die Reformen in der Stadt behindern. Beispielsweise die Stadtreinigung. Die drohte ihm vor zehn Tagen gerichtliche Schritte an, wenn er weiterhin öffentlich anzweifelt, dass mehr als nur ein BSR-Vorstandsmitglied in den Abrechnungsskandal verwickelt ist. Vor kurzem war herausgekommen, dass die BSR seit 1999 rund 60 Millionen Euro an Straßenreinigungsgebühren zu viel erhoben hat. „Für die FDP ist es undenkbar, dass nur ein einziges Vorstandsmitglied von dem ’Rechenfehler’ Kenntnis gehabt haben soll“, hatte Lindner gesagt.

Prompt verschickte Lindner eine neue Presseerkärung: Die BSR-Drohung sei der „plumpe Versuch“, ihn und die FDP einzuschüchtern, heißt es darin. Und dass die FDP den Skandal aufklären werde. Und dass man jetzt umso vehementer auf einen Untersuchungsausschuss drängen werde, der die Hintergründe aufkläre.

Die Meldung sollte vor allem eines klar- stellen: Martin Lindner – der Rebell. Zu gerne möchte Lindner als heimlicher Retter der Hauptstadt gesehen werden. „Es muss Schluss sein mit der sozialen und betreuten Stadt“, sagt Lindner, „Berlin muss eine Stadt der Verantwortung und des Wettbewerbs werden“. Deshalb will der Chefliberale die Verwaltung durch betriebsbedingte Kündigungen verschlanken, öffentliche Einrichtungen wie die Stadtreinigung, die BVG und die Wohnungsbaugesellschaften privatisieren und neue Unternehmern durch die Senkung der Gewerbesteuer nach Berlin locken. Das ist das, was auch seine Amtsvorgänger gefordert haben, das ist das, was Liberale immer fordern, wenn sie nicht mitregieren.

Zugegeben: Die Aufgabe, die Martin Lindner vor einem Jahr übernommen hat, ist nicht gerade einfach. Viele Jahre lang war die FDP aus dem Abgeordentenhaus verschwunden. Dazu kommt, dass die FDP-Fraktion weitgehend aus Unbekannten und Unerfahrenen besteht. Nur wenige wie die bildungspolitische Sprecherin Mieke Senftleben oder der Gesundheitsexperte Martin Matz haben in der Öffentlichkeit ein Gesicht.

„Lindner?“, fragt der Pförtner im Abgeordnetenhaus, „kenn ich nicht“. Nach der Bundestagswahl 1998 ist der Anwalt der FDP beigetreten. Als Günter Rexrodt, die bis dahin unumstrittene Nummer eins der Berliner Liberalen, für viele unerwartet nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen im vergangenen Herbst den Fraktionsvorsitz ablehnte, sprang er in die Lücke. Lindner fährt sich mit der Hand durch das lockige, mit Pomade nach hinten gekämmte Haar und lehnt sich weit in den schwarzen Ledersessel zurück. Der Sessel steht in Lindners Büro im dritten Stock des Abgeordnetenhauses, das so riesig ist, dass sich ein Konferenztisch und zwei Sitzecken darin verlieren.

Er wolle mit seiner Fraktion „langsam dicke Bretter bohren“. In den vergangenen Wochen zeichneten sich die Vorschläge der FDP aber mehr durch Originalität denn durch Detailkenntnis aus. Die Ladenöffnungszeiten außer Kraft zu setzen, indem man Berlin zum Notstandsgebiet erklärt und den Katastrophenparagraphen anwendet, war so eine Idee. Oder die mit den betriebsbedingten Kündigungen bei Beamten. Man müsse Berlin einfach wie ein insolventes Unternehmen betrachten, das seinen Kern erhalten will.

„Lindner wird noch lernen, dass das Abgeordnetenhaus keine Anwaltskanzlei ist“, sagt Stefan Liebich von der PDS, „er stellt schnell Forderungen, die im politischen Prozess realitätsfern erscheinen.“ „Viel Aufgeblasenheit, viel aufgesetzte Rhetorik“, bescheinigt ihm der grüne Fraktionschef Wolfgang Wieland.

Die Kritik stört Lindner nicht. Er will die ganz große Reform und beobachtet überall nur Mutlosigkeit und zu viel altes Berliner Denken, das bei jeder Veränderung Chaos und Apokalypse befürchte. „Das ist doch Unsinn“, sagt Lindner, „anzunehmen, die Stadt versinke im Müll, nur wenn sich private Unternehmen um die Beseitigung kümmern.“

In anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Schulpolitik, weichen die Liberalen gar nicht sehr von der rot-roten Politik ab. Gemeinsam ist man für mehr Gesamtschulen, mehr Leistungstests, und auch die Sozialdemokraten haben verstanden, dass Privatschulen allen zugute kommen. Keine andere Partei setze sich aber so für den Mittelstand und das Bürgertum ein wie die FDP, sagt Lindner. Und das Bürgertum sei das Rückgrat der Stadt.

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