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Michael Scharf, Chefermittler im Fall des seit Anfang Juli vermissten sechsjährigen Elias aus Potsdam.

© Ralf Hirschberger/dpa

Der Fall Elias: Chefermittler: "Das ist unerklärlich"

Vor drei Monaten verschwand der sechsjährige Elias aus Potsdam. Chefermittler Michael Scharf im Interview über den Ermittlungsstand, was mit Elias passiert sein könnte und wie der Fall ihn und seine Kollegen auch privat beschäftigt.

Herr Scharf, seit drei Monaten ist der sechsjährige Elias verschwunden. Spurlos. Wissen Sie mittlerweile, was genau am 8. Juli, dem Tag, als Elias verschwand, passierte? 

Da kann ich Ihnen nur das sagen, was wir tatsächlich wissen. Mit den Eltern haben wir den Tag genau rekonstruiert. Elias wurde zunächst am frühen Nachmittag von der Mutter aus dem Kinderhort abgeholt. Er spielte erst in der Wohnung und dann ab 17 Uhr noch bis zum Abendessen im Sandkasten vor dem Haus. Die Mutter und der Lebensgefährte haben uns mehrfach versichert, dass sie öfters aus dem Fenster geschaut und ihn gesehen haben. Auch andere unabhängige Zeugen bestätigten das. Als er dann um 18 Uhr zum Abendessen kommen sollte, war er nicht mehr da. Die Mutter hat sofort die Suche aufgenommen. Um 19.11 Uhr ging der Notruf bei der Polizei ein.

Der Sandkasten in der Straße Inselhof ist gut einsehbar. Es gibt sehr viele Fenster  zum Hof in dem Plattenbaugebiet, es war Sommer, es gibt Balkone. Irgendjemand muss doch etwas beobachtet haben in dieser einen Stunde. Irgendetwas muss ja passiert sein.  
Das ist genau die Frage, die auch uns bis heute durch den Kopf geht, die wir auch noch nicht beantworten konnten. Das ist unerklärlich. Eigentlich dürfte es nicht möglich sein, dass dort jemand unbeobachtet verschwindet, egal auf welche Art. Wenn er weggelaufen wäre, wäre das vielleicht nicht so wahrgenommen worden. Aber er hätte doch irgendwo ankommen müssen und wäre dort gesehen worden.

Ist er vielleicht zum nahen Spielplatz oder zum Jugendtreff gelaufen?
Das ist eine von mehreren Möglichkeiten. Aber es gibt keine konkreten Hinweise. Er ist offensichtlich spurlos verschwunden, wie aus dem Nichts. Wir haben folgende drei Szenarien: Er ist weggelaufen, vielleicht mit Freunden, oder in unmittelbarer Umgebung verunglückt, in einem Schacht oder Ähnlichem. Das haben wir alles mehrfach abgesucht, ohne Ergebnis. Somit können wir das nunmehr weitestgehend ausschließen, zumindest was die öffentlich zugänglichen Bereiche betrifft. Die dritte Möglichkeit ist, dass er gegen seinen Willen irgendwo hingebracht, weggelockt oder in ein Auto verbracht wurde. Aber auch dafür haben wir keine Hinweise.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für Variante drei?
Es liegen weder für die eine noch für die andere Theorie konkret fassbare Hinweise vor. Mutmaßungen anzustellen ohne konkrete Anhaltspunkte für die eine oder die andere Theorie verbietet sich, auch mit Rücksicht auf die Eltern des Jungen. Da will ich nicht spekulieren, da das nichts bringt.  

Ein Spielplatz im Potsdamer Wohngebiet "Am Schlaatz".
Ein Spielplatz im Potsdamer Wohngebiet "Am Schlaatz".

© Ralf Hirschberger/dpa

Lebt Elias noch?  
Noch einmal: Mit Rücksicht auf die Familie möchte ich nicht spekulieren. Im Fall der 2007 verschwundenen vierjährigen Britin Madeleine McCann in Portugal hoffen die Eltern ja immer noch. Solange man das Kind nicht tot findet, muss man davon ausgehen, dass es noch lebt.  
 

Wenn Elias einem Verbrechen zum Opfer fiel, was könnte das sein?  
Es kommen nach wie vor mehrere Möglichkeiten in Betracht. Es könnten sexuelle Hintergründe sein. Es kann auch eine Zufallstat gewesen sein. Der Junge war da und wurde mitgenommen, ohne Grund. Es gab vereinzelt Hinweise auf Fahrzeuge mit ausländischen Kennzeichen, aber daraus können wir nicht schließen, dass er im Ausland ist.  

"Wir schauen 1000 Fotos noch einmal an"

Was war mit dem schwarzen Kombi, nach dem sie rund zwei Monate nach dem Verschwinden des Jungen gesucht haben?  
Der Wagen wurde von mehreren Zeugen unabhängig voneinander zum Zeitpunkt des Verschwindens von Elias gesehen. Der Wagen hatte kein ausländisches Nummernzeichen. Wir gehen davon aus, dass der Fahrer möglicherweise etwas gesehen hat. Wir suchen die Insassen demnach weiter als mögliche Zeugen. Wir sind unter anderem auch dabei zu schauen, welche Autos dieser Art in Potsdam zugelassen sind. Die Halter werden noch überprüft. Da werden einige Befragungen folgen.  

Sie haben weiter keinen roten Faden, um den Fall zu lösen. Was tut man in solch einer Situation?  
Wir gehen jetzt im Ausschlussverfahren vor. Was wir ausschließen können, gilt erst einmal als abgearbeitet. Das heißt aber nicht, dass wir es nicht noch einmal anfassen können.  

Elias (6) wird seit Anfang Juli vermisst.
Elias (6) wird seit Anfang Juli vermisst.

© Polizeidirektion West/dpa

Denkt man da auch über ein Versagen der Polizei nach?  
Nein, das ist kein Thema. Dennoch sind wir auch nach all den Wochen angespannt, wollen wissen, was passiert ist. Doch wenn man keinen „Anpacker“ findet, keinen roten Faden, den man verfolgen kann, keine heiße Spur, dann ist das mehr als unbefriedigend. Aber wir verzweifeln deswegen nicht, denken keineswegs ans Aufgeben, sondern haben weiter den Anspruch, unsere Arbeit gut zu machen.  

Wie viele Ermittler sind derzeit in der Soko „Schlaatz“?  
Es sind täglich mindestens 15 Beamte im Einsatz, die Hinweise entgegennehmen, bewerten und entsprechende Ermittlungsaufträge bearbeiten. Das ist der harte Soko-Kern, der sich auch mehrmals pro Woche trifft, um alle Aufträge und Ergebnisse mit dem Ziel zu besprechen, weitere Puzzleteile zu finden, um ein möglichst klares Bild vom Geschehen zu bekommen. Bei Bedarf unterstützen weitere Beamte die Soko, sodass auch nach den vielen Wochen des Verschwindens immer noch die erforderliche Zahl von Ermittlern und Spezialisten im Einsatz ist.  

Hieß es nicht immer, dass die Soko arbeitet, solange es noch Hinweise gibt?  
Das wurde vielleicht etwas missverständlich ausgedrückt. Grundsätzlich ist jedoch richtig, dass die Soko so lange arbeitet, wie sie Hinweisen nachgehen kann.  Bislang gingen fast 1200 Hinweise ein, von denen noch rund 20 Ermittlungsansätze bieten, denen wir nachgehen. Es gibt derzeit auch keine Überlegungen, die „Soko Schlaatz“ weiter zu verkleinern.  

Werten Sie auch das Bildmaterial erneut aus?  
Ja, 300 bis 400 Stunden Videomaterial und rund 1000 Fotos schauen wir uns auch noch mal an, um sicherzugehen, dass uns nichts entgangen ist. Teilweise ist die Bildqualität sehr schlecht. Die Fotos müssen dann bearbeitet werden, um etwas zu erkennen. Aus dieser Arbeit können sich auch neue Fragen ergeben, denen dann nachgegangen wird - bisher allerdings ohne neue Erkenntnisse.  

"Das nimmt einen schon emotional mit"

Gibt es einen Zusammenhang zum Fall Inga, die rund zwei Monate vor Elias in Stendal verschwand?  
Nein. Wir sind im Austausch mit den Kollegen der Ermittlungsgruppe „Wald“ in Stendal in Sachsen-Anhalt. Die Kinder sind im ähnlichen Alter, die Tatorte sind nicht so weit entfernt, aber daraus kann man nicht ableiten, dass hier ein und der selbe Täter gehandelt hätte.  

Was ist mit internationalen Kinderhändlerringen? Arbeiten Sie mit dem Bundeskriminalamt (BKA) und dem LKA zusammen?  
Es gibt Spezialisten, die wir regelmäßig kontaktieren. Wir prüfen auch einschlägige Dateien im Internet. Diese Arbeit läuft noch. Wir gleichen die Fälle – auch ältere – europaweit miteinander ab, ob es Parallelen gibt.  

Glauben Sie, dass Elias in Potsdam zu finden ist?  
Was wir ausschließen können ist, dass Elias im öffentlich zugänglichen Bereich im Wohngebiet Schlaatz ist. Wenn er da wäre, hätten wir ihn gefunden. Da ist alles durchsucht worden, zum Teil mehrfach, auch die Nuthe. Es gibt aber auch Bereiche, die nicht öffentlich zugänglich sind. Wohnungen zum Beispiel dürfen wir nur bei Vorliegen entsprechender Verdachtsmomente beziehungsweise konkreter Tatsachen durchsuchen und auch nur, wenn ein richterlicher Beschluss vorliegt.  

Mit einem großem Bagger suchen Polizisten Mitte Juli in der Nuthe nach dem vermissten Elias.
Mit einem großem Bagger suchen Polizisten Mitte Juli in der Nuthe nach dem vermissten Elias.

© Bernd Settnik/dpa

Hätten Sie nicht alle Keller durchsuchen müssen?  
Ja, aber wir hätten es aus oben genannten Gründen nicht gedurft. Eigentum ist ein sehr hohes Rechtsgut und unsere Befugnisse haben natürlich Grenzen. Wir haben aber viele Bürger gebeten, ob wir mal in den Keller schauen können, was wir auch getan haben.  

Wie bewerten Sie im Rückblick die Hilfsbereitschaft der Anwohner?  
Gerade in der Anfangszeit war die schnelle und überwältigende Unterstützung unabdingbar und hilfreich. Umso mehr Arme und Hände jeden Strauch und Stein umdrehen, desto wahrscheinlicher ist natürlich das Auffinden der vermissten Person nach einem Unfall oder dem Weglaufen. Wobei die Bürgersuche keine polizeiliche Suche ersetzte.  

Hätten Sie nicht frühzeitig eingreifen müssen, um den Bürgern die Grenzen ihres Einsatzes aufzuzeigen?  
Ja, wir haben uns bereits darüber Gedanken gemacht und uns mit den Partnern ausgetauscht, wie man das künftig professioneller machen kann und muss. Es ist nicht unnormal, dass zum Anfang alles etwas unorganisiert wirkte. Es war alles gut gemeint von den freiwilligen Helfern, keine Frage. Aber es ist eben nicht zulässig und sogar gefährlich, wenn Helfer bestimmte Räume betreten und durchsuchen. Das ist allerdings in Ansätzen versucht worden.  

Hätte sich die Polizei mehr an die Spitze des Zugs setzen müssen, auch in den sozialen Netzwerken?  
Wir haben relativ zeitnah einen Beamten als Ansprechpartner abgestellt. Auch die zeitweise installierte mobile Wache diente diesem Zweck. Was die sozialen Medien betrifft, ist die Brandenburger Polizei seit etwa zwei Monaten mit einem eigenen Facebook-Auftritt im Netz. Diesen werden wir sicher bei künftigen Ereignissen mit nutzen, um zielgerichtet zu informieren, aber auch um Gerüchte zu entkräften, wie sie im Fall Elias im Umlauf waren.  

Gibt es schon Ergebnisse der angekündigten Evaluation des Einsatzes?  
Für eine umfassende Evaluierung ist es meines Erachtens noch zu früh. Aber wir werden auf jeden Fall alles, was wir getan haben, auswerten, um in vergleichbaren Fällen noch besser reagieren zu können. Auch wenn ich bis heute keinen gravierenden Fehler im polizeilichen Handeln feststellen konnte, heißt es nicht, dass keine gemacht wurden. Aber es waren keine darunter, die zu anderen Ergebnissen geführt hätten.  

Wie gehen Sie und ihre Kollegen persönlich mit dem Fall um?  
Es ist bei allen ein großes Thema, auch in den Familien der Kollegen. In meiner natürlich auch. Mein Sohn ist im gleichen Alter wie Elias. Wir reden da natürlich auch darüber und das bekommt auch meine dreijährige Tochter mit. Offenbar macht sich auch die Kleine ihre eigenen Gedanken über Elias. So schnappt sie sich immer mal wieder das Telefon und simuliert einen Anruf mit der Mutter von Elias und sagt dann, dass es ihm gut gehe. Das nimmt einen schon emotional mit, so wie auch viele meiner Kollegen, insbesondere diejenigen, die nach wie vor intensiv an diesem Fall arbeiten.

Das Interview führte Stefan Engelbrecht

ZUR PERSON: Michael Scharf, 49, ist Leitender Polizeidirektor. Er verantwortet die Arbeit der Sonderkommission (Soko) „Schlaatz“ innerhalb der Polizeidirektion West. Vor seinem Wechsel in die Direktion war er im Stab des Polizeipräsidiums tätig.
Die Ermittler suchen seit dem 8. Juli nach dem sechsjährigen Elias der beim Spielen in der Straße Inselhof im Potsdamer Stadtteil Am Schlaatz spurlos verschwand. Eine heiße Spur gibt es immer noch nicht. Scharf ist studierter Kriminalist und seit Jahren in der Polizeiarbeit tätig. Einen solchen Fall habe er aber noch nicht erlebt, sagte er.

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