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Nach dem Schuss. Das jetzt aufgetauchte Bild zeigt den tödlich verwundeten Benno Ohnesorg auf dem Hinterhof der Krummen Straße - rechtes Einsatzleiter Starke, links der uniformierte Beamte Geier, ganz links Karl-Heinz Kurras. Geier erklärte später vor Gericht, Starke sei nicht dort gewesen. Starke behauptete, dass er Kurras nicht gesehen habe.

© Schöne

Der Fall Kurras: Grenzenlose Solidarität mit dem Todesschützen

Neue Dokumente zeigen, wie Benno Ohnesorg vor der Deutschen Oper wirklich starb. Sie legen den Schluss nahe: Der Schuss wurde gezielt abgeben – und die Polizeiführung vertuschte die Tat.

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Karl-Heinz Kurras hat merklich abgebaut in den letzten Jahren, der rüstige Rentner ist zu einem gehbehinderten Pflegefall geworden. Aber er lebt noch in seiner Staakener Eigentumswohnung mit Blick auf die Weinbergshöhe; nicht im Pflegeheim, wie Zeitungen meldeten. Eine typische Wohnanlage aus den 60er Jahren, langweilig und gepflegt, mit kleinen Plattenwegen von den Hauseingängen zum Parkplatz. Rasen betreten verboten. Es ist nicht nur wegen des ebenso schwierigen wie prominenten Nachbarn, dass man sich hier als Journalist nicht willkommen fühlt.

Seine Welt ist kleiner geworden. Mit seinem VW-Golf oder seinem weißen Fahrrad fährt er schon lange nicht mehr durch den Kiez, nicht in das Einkaufszentrum am Magistratsweg, nicht in die Bauernstube vorn an der Heerstraße. Die Einkäufe erledigt eine osteuropäische Haushaltshilfe, und eine Pflegerin kommt jeden Tag vorbei. Seine Frau kommt zur Tür, wenn man klingelt, schlägt sie aber sofort wieder zu. „Wir wollen endlich unsere Ruhe haben. Wir sind nicht mehr gesund.“ Angesprochen auf die Ereignisse von 1967 blockt er ab: „Die Sache ist für mich abgeschlossen und für den Generalstaatsanwalt auch, basta.“ Seine Erregung beweist das Gegenteil.

Anfang November 2011 stellte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin ein erneutes Ermittlungsverfahren wegen des Todesschusses gegen Kurras ein.
Anfang November 2011 stellte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin ein erneutes Ermittlungsverfahren wegen des Todesschusses gegen Kurras ein.

© dpa

Seit einem Fahrradunfall vor Jahren ist der Fahrstuhl in seinem Wohnhaus in Staaken das wichtigste Transportmittel für Kurras. Ohne den Aufzug käme er nicht mehr aus seiner Wohnung im dritten Stockwerk heraus, nicht mal mehr in seinen geliebten Bastelkeller. Dort lagert er auch den Biervorrat, aber viel ist es nicht mehr, was er noch trinken kann und darf. Er geht am Stock und jede Stufe ist eine Herausforderung. „Mir geht’s gar nicht gut. Ich habe so einen Schwindel im Kopf“, sagt er mit hoher Altersstimme. Und dann kommt er wieder, sein Lieblingssatz der letzten Jahre: „Die Jubelpresse kann mir auf den Arsch klatschen.“

Doch die Geschichte ist noch nicht vorbei, ganz nah ist sie wieder an Kurras herangerückt. Es war keine Notwehr, wie es der Waffennarr und Stasi-Spitzel bei den Todesschüssen auf Benno Ohnesorg vor Gericht darstellte, manches spricht für einen gezielten Schuss auf den 26-jährigen Romanistikstudenten Ohnesorg. Die Neuauswertung von Fotos und Filmen belegen zudem, dass weit mehr Beamte wussten, was in der Nacht an der Deutschen Oper tatsächlich passierte. Eine Stasi-Verschwörung zur Destabilisierung der Frontstadt West-Berlin durch die gezielte Tötung Ohnesorgs, wie 2009 nach der Enttarnung des IM „Otto Bohl“ gemutmaßt wurde, war es nicht – vieles spricht dafür für eine Verschwörung der Polizei, um den Kameraden Kurras mit grenzenloser Solidarität zu schützen.

Ein Tonband wurde vom Gericht nicht gehört und verschwand später.

Was in jener Nacht auf dem Hinterhof an der Krummen Straße geschah, lässt sich nun rekonstruieren. Entlarvt wird Kurras Behauptung, er habe lediglich einen Warnschuss abgegeben, weil er im Hof von einem „Mob“ eingekesselt wurde, von Männern, die „außer Rand und Band“ auf ihn eingeschlagen, mit Messern bedroht und versucht hätten, ihm die Pistole zu entreißen. Nicht etliche Meter entfernt, wie es das Gericht im Freispruch festhält, hat Kurras gestanden, sondern ist mit gezogener Pistole auf Ohnesorg zugetreten – unter den Augen seiner Kollegen.

Daran aber konnte sich 1967 und 1970 vor Gericht kein Beamter mehr erinnern. Schon unmittelbar nach dem Todesschuss fing die Vertuschung an; spürbar wurde ein Korpsgeist, der die Truppe bis hoch zum Polizeipräsidenten Erich Duensing durchzog. Kurras wurde von seinem Vorgesetzten sofort weggeschickt, der Abendschau das Filmen verboten, vor Gericht behauptete Kurras inzwischen verstorbener Vorgesetzter, er habe Kurras nicht am Tatort gesehen – das nun aufgetauchte Foto beweist das Gegenteil. Andere Beamte wurden entweder nicht als Zeugen vor Gericht vernommen oder behaupteten, sie seien nicht am Tatort gewesen. Ein Tonband, auf dem ein Befehl zu hören ist: „Kurras, nach hinten – schnell weg!“, wurde vom Gericht nicht gehört und verschwand später. Hilfe bekam Kurras auch von Freunden: Ein Fotograf, mit Kurras im selben Schützenverein, schaffte am Tag danach illegal in der Wohnung lagernde Munition und Waffen weg.

Das Gedenken an Benno Ohnesorg hier in Bildern:

Kurras war 1971 rechtskräftig freigesprochen worden. Anfang November 2011 stellte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin ein erneutes Ermittlungsverfahren wegen des Todesschusses gegen Kurras ein. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens schließt die Staatsanwaltschaft aus. Zwischen 2009 und 2011 seien Akten, Bildmaterial und Unterlagen „sorgfältig“ gesichtet worden. „Es gibt keine neuen Gesichtspunkte, die diese Erkenntnisse in Frage stellen würden“, sagte Martin Steltner, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Er verweist auf hohe rechtliche Hürden für die Wiederaufnahme eines Verfahrens zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen. „Die Voraussetzungen liegen nicht vor.“ Außerdem sind viele Zeugen verstorben, altersschwach oder können sich nicht mehr erinnern.

Die Bundesanwaltschaft ermittelt derzeit gegen Kurras wegen des Verdachts auf Landesverrat im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Stasi-Spion. Bisher gebe es keine Indizien, dass Kurras im Auftrag der Stasi auf Ohnesorg geschossen habe, hieß es. Es ist unwahrscheinlich, dass die Ermittlungen zu einer Anklage führen. Zum einen muss geprüft werden, ob die Informationen von Kurras an die Stasi als Landesverrat gewertet werden könne. Zum anderen muss erst bewiesen werden, dass Kurras tatsächlich jahrelang Interna aus der Polizeiführung verraten hat. Kurras war 1987 pensioniert worden.

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