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Berlin: Der Feldversuch

Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas ist ein Ort geworden, der sich ständig wandelt. Wir haben eine Woche lang Besucherprotokoll geführt

Das Mahnmal hat seinen Rhythmus gefunden. Es ist der magnetische Ort in der Mitte Berlins geworden, den sich manch einer so nicht gedacht hat: Alle kommen und wollen sehen und erleben, was sie Steinhaufen, Betonwüste, Stelenfeld oder Judenfriedhof nennen. Wir haben das Mahnmal eine Woche lang besucht, immer wieder, früh und abends, auch nachts, und immer ist es anders – ein Ort der Verwandlung.

19. Mai, 6 Uhr. Die Ersten kommen früh, manche kürzen den Weg zur Arbeit ab und marschieren zielbewusst durchs Stelenfeld. Später, um neun, fahren Polizeiautos vor. Auf den Häusern in der Behrenstraße linsen plötzlich Polizisten durch ihre Ferngläser. Über dem Tiergarten knattert ein Hubschrauber. Aus einem roten VW-Bus klettern Männer mit Stahlbrüsten unterm Drillichzeug, nehmen ihre Präzisionsgewehre und kneifen ein Auge zu, wenn sie mit dem anderen durch die auf den Lauf montierte Optik zielen; jetzt haben sie mich im Visier, ich wohne nämlich sechs Stockwerke über der Stelle, auf der sie stehen. Smarte Jungs, sehr sportlich. Nun verbergen sie ihre gebräunten Gesichter, nur die Augen leuchten durch einen Schlitz in der schwarzen Maske. GSG 9? Der Grund biegt gerade um die Ecke: die schwarze Wagenkolonne mit einer blau-weißen Fahne am Stander und dem Davidstern – Israels Außenminister ist da, grüßt freundlich und steigt in den Ort der Information hinab. Es ist alles unaufgeregt. Am Ende atmen die maskierten Männer tief durch – Generalprobe bestanden. Für den 1. Juni. Dann kommt Israels Präsident. Und die Sicherheitsstufe 1.

20. Mai, 11 Uhr 25. Der erste Reisebus hält. Das ist neu. Die Stadtführerin schart ihre Schäfchen um sich und erklärt mit ausholenden Gesten ihre Umgebung. Dann verschwinden die Touristen zwischen den Steinen. Nach genau 20 Minuten sind sie wieder im Bus. Nach dem letzten Regen hat sich herausgestellt, dass das Dach des Bauwerks mit dem Aufzug für den „Ort der Information“ undicht ist. Nun liegt dort eine grüne Plane, mit Steinen beschwert. Apropos Regen: Der Graffiti-Schutz auf den Stelen bewirkt, dass die Tropfen als Kügelchen liegen bleiben, von Sonne beschienen funkelt jeder wie ein Diamant. Das Feld ist ein einziges großes Fotomotiv. Das Brandenburger Tor wird blass, unglaublich. Bei Profis haben sich die besten Zeiten für eindrucksvolle Bilder herumgesprochen: früh, wenn die Sonne schräg von Osten kommt, und abends nach acht, wenn die letzten Strahlen vom Tiergarten aus das Feld in ein Schachbrett verwandeln und jeder Stein seinen Schatten auf den nächsten wirft. Heute zähle ich zehn Fotografen.

21. Mai, 12 Uhr. Etwas Peinliches: Über dem neuen Straßenschild Cora-Berliner-Straße taucht (an der Einmündung zur Behrenstraße) ein erklärender Text auf. Da steht Cora Berliner, Wirtschaftsprofessorin, „geb. 1906, gest. 1975“. Cora Berliner wurde jedoch 1890 geboren und vermutlich 1942 aus Berlin deportiert, „Ort und die Umstände ihres Todes sind nicht bekannt“, heißt es im offiziellen Material der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, andere Quellen vermuten Theresienstadt. Aber 1942, nicht 1975. 1975 starb die 1906 geborene Hannah Arendt in New York. Die nach ihr benannte Straße liegt nebenan – der Schildermaler hat die Daten vertauscht. Heute kommen besonders viele Menschen, und wenn wir schon mal durch die kritische Brille gucken, wollen wir fragen, wann die Behörden endlich lebensrettend einschreiten und in der Behrenstraße einen Zebrastreifen markieren: Die Leute hüpfen und rennen und springen durch den Verkehr. Da gibt es eine neue Attraktion, aber alles andere im Umfeld scheint niemanden nicht mehr zu interessieren. Dagegen legen sich die Restaurants in der Gegend richtig ins Zeug. Wie „Metzkes Deli“, dem neuen Schlemmer-Bistro neben dem „Felix“-Clubrestaurant in dem Haus mit der gelben Fassade, die so wirkt, als habe der Architekt Günter Behnisch eine Kiste Setzeier über die Wand verteilt. Hier gibt es feinköstliche Salate, Sandwiches, Bagel, halbe Hummer, Kaviar, schöne teure Getränke mit dem norwegischen Wasser zu sechs Euro die Flasche. Die Bilder von Harald Metzkes, vor 50 Jahren in Faschingslaune im Keller der alten Akademie der Künste an die Wand gemalt, gibt es als optische Beilage. Bis 22 Uhr. Dann schalten sie die Lichtstreifen im Mahnmal an – wieder ein neues, diffuses Licht-Bild in steingrauer Nacht.

22. Mai, 15 Uhr. Es wird immer belebter im Feld der Stelen, das sich zwar wellt, aber nicht wogt (wie ein Kornfeld), und es ist auch nicht so schön gelb, wie es der Architekt geschickt mit seinen Bauklötzern als Modell gebastelt hat, sondern schwarz-grau, also schwer. Zwei Männer streiten sich: Mahnmal oder Denkmal? Ein anderer kommt dazu und sagt, Denkmäler seien für ihn authentische Orte, die Rampe im Grunewald zum Beispiel, oder das leere Bücherregal auf dem Bebelplatz. Aber hier? Dass man bereit ist, diesen Teil deutscher Geschichte ewig vor der Nase zu haben und nicht zu verstecken, ist nun wieder sehr gut, symbolisch auch. – Jetzt versucht einer, mit dem Fahrrad durch die 95 Zentimeter breiten Reihen zu fahren. Er gibt auf.

23. Mai, 10 Uhr. Um diese Zeit öffnet sich der Ort der Information. Den ganzen Tag, bis 19 Uhr, stehen nun die Leute 30 bis 60 Minuten an, um in den unterirdischen Räumen mit den Dimensionen des Holocaust konfrontiert zu werden. Vielleicht wird das Mahnmal verständlich, wenn man zuerst in diese Unterwelt geht? Ein junger Mann empfindet „da unten“ eine konkrete Wirkung auf Seele und Geist – oben hingegen mehr den „Ort der Abstraktion“. Direkt neben dem Container, in dem jeder Besucher durchleuchtet wird, haben sie den Boden aufgerissen. Nanu, fragt einer, wird hier doch noch der Backenzahn vergraben? „Wir bohren nach Erdöl“, erwidert einer der Leute vom Sicherheitsdienst, und ein Besucher nimmt Lea Rosh in Schutz: „Sie hat’s doch gut gemeint“.

24. Mai, 11 Uhr. Ich hab das Gefühl, dass die Schulklassen gesitteter mit dem Denkmal umgehen. Die Lehrer erklären mehr, das Springen von Stein zu Stein macht dann nicht mehr so viel Spaß. Und wenn zwei um die Wette hüpfen, kommt der Mann von der Security und erklärt lächelnd, dass dies kein Trimm-dich-Pfad sei. „Präsenz zeigen ist alles“, sagt er, „und freundlich sein“. Zum Beispiel, wenn zwei junge Damen ihre nackten Bäuche auf die Stelen legen, der Sonne zugewandt, „dann frage ich höflich, ob ihnen schlecht ist und wir einen Arzt holen sollen, und schon verstehen sie, dass dies keine Liegewiese ist“. Aber ein Ort für Liebende: Sie stehen oder sitzen innig umschlungen, küssend, etwas verklärt. Fördert dieser Toten-Gedenkort vielleicht die Sehnsucht nach Leben und die Dankbarkeit, in einem freien Land zu leben, das an dieser Stelle schaudernd zurückschaut, aber für Gegenwart und Zukunft die wichtigsten Lehren gezogen hat? – Am Abend rollen zehn Wagen einer Filmcrew an, sie möchten nicht verraten, was hier gedreht wird. Am Straßenrand liegt die Klappe mit dem Titel des Opus: „Du bist Deutschland“. Wahlspot?

25. Mai, 23 Uhr. Während im Fernsehen der FC Liverpool jubelt, schraubt unten im Stelenwald ein junger Mann seine Kamera aufs Stativ. Wer, um Himmels Willen, fotografiert die Dunkelheit? Und wofür? Lukas Wassmann aus Zürich läuft seit Tagen durch die Reihen, jetzt mit einer Minute Belichtung bei Blende 16, er möchte wissen, was mit den hellen Flächen passiert, oder mit den leicht angehellten, hier wird Kunst produziert: Der 24-Jährige fotografiert für einen Schweizer Verlag, der einen Bildband macht, am 20. Juli soll das Werk im Jüdischen Museum vorgestellt werden. Im übrigen sagte mein Freund D., nachdem er aus dem Stelenfeld kam: „Menschen stören vieles, sowohl die Stille als auch die Ästhetik des Ortes – ich will diesen unberührten Blick haben, sonst bin ich nicht berührt“. Die Zeit, da man, wie vor der Eröffnung, einsam und allein hier seinen Gedanken nachgehen konnte, kommt nie wieder. Immer taucht einer auf und möchte vorbei, man zieht den Bauch ein oder fragt sich, wer wohl um die nächste Ecke kommt, und dann schnattern sie auch noch. Auf der 29. Stele links vorn packt jemand seine Butterbrote aus. „Isch seh kei’ Sinn da drin“, sagt der Mann aus Bayern, und seine Frau antwortet sofort auf ihre Frage, wer denn „die vielen Folgekosten“ trägt: „ Na, wir, die Steuerzahler.“

26. Mai, 9 Uhr 30. Wieder ein Staatsbesuch, ganz lässig, ohne Absperrungen. Der spanische Außenminister. Wird das hier ein Pflichtprogramm für Regierungsgäste? Warum nicht? Was sagt Käthe Kollwitz’ trauernde Mutter in der Neuen Wache Unter den Linden dazu? Während an der Behrenstraße eine Krähe, ja, wirklich, so wahr ich hier bei 33 Grad aktuelles Erinnern in die Tasten hämmere, von Stele zu Stele hüpft, denke ich: Vielleicht ist dem Künstler etwas ziemlich Einmaliges gelungen: Hier kann jeder seinen eigenen Blick auf die Dinge finden. Und die Gedanken sind frei.

27. Mai, 10 Uhr. Nun können wir doch noch etwas Außergewöhnliches fotografieren. Kein Graffito, keine Bosheit, alles andere als Stelen-Jumping, Mahnmals-Camping oder eine kleine Laszivität: Plötzlich liegt er da auf einem Betonsarg, dieser riesige Kranz mit frischen, strahlenden Sonnenblumen und gelben Lilien, ohne Absender, wie vom Himmel gefallen. Und wieder rast die Gedankenkette ins Leere: wer? Warum? Wofür? Jemand fotografiert. Ein ganz neues Motiv: also doch ein großer Friedhof inmitten der Stadt?

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