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Berlin: Der Flaschenblick

Sie stecken ihre Hände in den Müll, ziehen mit Tüten durch die Stadt. Egal, bei welchem Wetter. Unterwegs mit zwei Pfandsammlern

Andrej, 36, steht am Rosa-Luxemburg-Platz in Mitte, steckt seine Hand in eine dreckige Mülltonne und holt eine grüne Pfandflasche hervor. „Die bringt acht Cent“, sagt er. Dann dreht Andrej die Flasche um, schales Bier tröpfelt auf den Boden.

Flaschensammler wie der Russe Andrej ziehen täglich durch die Stadt. Egal, zu welcher Uhrzeit. Und egal, bei welchem Wetter. Sie tragen Plastiktüten, schieben Einkaufswagen, voll mit leeren Flaschen. Sie gehen durch Parks, schleichen an all den Clubs vorbei, vor denen am Abend zuvor so mancher noch schnell ein Bier runtergekippt hat, bevor er reingegangen ist. Und bald stehen sie auch wieder vor den Stadionkassen bei Hertha BSC.

An der Lenkerstange von Andrejs Fahrrad hängen an diesem Tag zwei prall gefüllte Plastiktüten. Für die Flaschen bekommt er acht Cent, mal 15, mal 25, je nach Typ. Durch das Sammeln bekommt Andrej pro Tag drei Euro zusammen. Das ist bares Geld für den illegal in Deutschland lebenden Ausländer, der nach eigenen Angaben kein Geld vom Staat bekommt, obdachlos ist und vor allem Wert darauf legt, „ehrlich zu bleiben“.

Seit 1994 lebt Andrej, der aus dem Kaukasus stammt, in Berlin. Als 20-Jähriger war er Funker bei der Westgruppe der Roten Armee, nahm an der Abschiedsparade in Berlin teil. Dann ging er nach Russland zurück, erzählt er, doch dort habe er keine Perspektive für sich gesehen und sei noch im selben Jahr zurückgekehrt nach Berlin. Mit einem gefälschten polnischen Pass.

Andrej schlug sich erst mit Gelegenheitsjobs durch, half bei Umzügen, Wohnungsrenovierungen und auf Baustellen. Doch jetzt gibt es zu wenig Arbeit für zu viele Leute wie ihn. Und außerdem lohne es sich nicht mehr, erzählt er. „Es sind viele Leute aus dem Osten hier, das drückt die Preise. Die Chefs geben schwarz zwei Euro die Stunde und denken, sie sind großzügig.“ Jetzt verdiene er seine drei Euro am Tag und sei zufrieden mit dem Leben: „Ich bin frei, ich liebe Berlin. Das ist die einzige Stadt der Welt, in der man fast kein Geld braucht, um zu leben.“

Zum „Ullrich“-Markt an der Mohrenstraße in Mitte etwa kommen manche Sammler gleich mit Riesensäcken. Vor allem während Großveranstaltungen bekommen die Supermärkte die sozialen Nöte der Stadt zu spüren: Viele Obdachlose oder andere, denen man ihre Lebensumstände am Äußeren jedoch kaum ansieht, bessern ihren Geldbeutel mit gesammelter Pfandbeute auf. An einem normalen Tag zahlt „Ullrich“ bis zu 400 Euro an Pfandbons aus. Während der Fußball- WM waren es jeden Tag rund 1000 Euro.

Auch Detlef B. sammelt Flaschen. Und wenn er etwa an die WM denkt, dann beginnt er zu schwärmen. Herrliche Zeiten seien das gewesen, sagt der 62-Jährige, während er sich eine Zigarette dreht. Er hat damals am Olympiastadion und auf der Fanmeile rund um den Tiergarten gesammelt. „Damals habe ich nur die PET-Flaschen mitgenommen, für die gibt es 25 Cent.“ Mit seinem „WM-Gewinn“, wie er das nennt, hat er sich ein ordentliches Paar Schuhe gekauft und bei C&A eine warme Winterjacke. Die hilft ihm jetzt.

Etwas verächtlich werden sie schon angeguckt. An einer Tankstelle in Wedding etwa meint ein Verkäufer, dass „wir so ’ne Leute ständig hierhaben“. Die erst in Mülleimer gucken und die verschmutzen Flaschen dann in der Tankstelle abgeben.

Das Glas mit der Rückgabegarantie ist in Berlin sogar schon zum Anlass für einen Raubüberfall geworden. So hatten im August vergangenen Jahres drei Räuber einen Reinigungsfachmann auf dem S-Bahnhof Raoul-Wallenberg-Straße in Marzahn angesprochen und das Leergut gefordert. Als sich der Mann weigerte, die Flaschen herauszugeben, bedrohte einer der Männer ihn mit dem Messer. Am Ende bekamen sie die Flaschen: sieben Stück.

Das Revier von Detlef B. ist das Scheunenviertel, im Sommer der Rasen vorm Berliner Dom. Während Touristen über die Oranienburger Straße schlendern, wirft der 62-Jährige gewissenhaft einen Blick in jeden Mülleimer. Er verdient am Wochenende bis zu acht Euro. Und unter der Woche? Manchmal nur einen.

Auch er hat eine Geschichte zu erzählen, und auch sie handelt vom Scheitern: Er habe studiert, sei Ingenieur, zu DDR- Zeiten habe er auf vielen Baustellen gearbeitet. Auch am Fernsehturm, in dessen Schatten er jetzt Mülleimer durchforstet. „Ich habe bei der Planung der Rohre mitgewirkt“, sagt er. Wenn er könnte, sagt er, würde er die Zeit zurückdrehen. „Ich bin im Herzen Kommunist geblieben, wenn auch in der DDR nicht alles perfekt war.“ Unter dem „gegenwärtigen System“ habe er jedenfalls keine Chance, meint er. „Ich bin Hartz-IV-Opfer.“

Detlef B. muss jetzt weiter, muss in Mülleimer schauen und in dunkle Hauseingänge. Kurz bevor er geht, sagt er noch: „Ich hab’ den Flaschenblick, mir entgeht keine Pulle.“

André Glassmacher, Annette Kögel

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