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Berlin: Der Frontstadt auf der Spur

Zwischen Kaltem Krieg und Kranzler: US-Historiker David Barclay erforscht die Geschichte West-Berlins

Sein Geschäft ist der Blick zurück. Trotzdem wagt David Barclay eine Prognose für die Zukunft. Wie lange Berlin noch als Kombination einer Ost- und einer Westhälfte wahrgenommen werden wird? „Das dürfte eine Frage von Generationen sein“, sagt der Historiker und zieht einen Vergleich zu seiner Heimat, den USA: Die Spaltung aus der Zeit des Bürgerkrieges vor gut 140 Jahren präge das Land bis heute. Allzu viel solle man auf seine Prognose aber nicht geben, sagt er dann, grinst schelmisch und erzählt: „Als mich vor 1989 ein Student fragte, wie lange Deutschland geteilt bleibt, war meine Antwort: Länger als ihr und ich leben.“

Auch wenn er damals daneben lag: Barclay hat eine solch enge Beziehung zu Deutschland und Berlin, dass er sie in Anspielung auf einen Begriff seines Berufskollegen Richard Cobb seine „zweite Identität“ nennt. Barclays zweite Identität begann vor 35 Jahren am Bahnhof Zoo. „Da hinten hatte ich meine erste Begegnung mit dieser Stadt“, erzählt er beim Gespräch im Café Kranzler. Von der Terrasse zeigt er die Joachimstaler Straße hoch. In dem heute zum Regionalbahnhof degradierten Gebäude stieg Barclay im September 1972 als junger Doktorand aus dem Zug. Er war geschockt und fasziniert zugleich von der heruntergekommenen, beeindruckenden Urbanität, sagt er. Und dann der Kurfürstendamm: „Das war für mich als amerikanischer Provinzler der Inbegriff einer europäischen Flanierstraße.“ Das war der Anfang einer lebenslangen Liebesgeschichte, in deren Verlauf er nicht nur seine aus Südafrika stammende Ehefrau Johanna beim Deutschkurs kennenlernte, sondern auch Berlin und die Deutschen zur wissenschaftlichen Passion werden ließ.

Heute ist der Geschichtsprofessor vom Kalamazoo College in Michigan einer der renommiertesten Deutschlandexperten der USA, Autor mehrerer Bücher zur deutschen Geschichte, Vorstand der German Studies Association und seit kurzem als Gast der American Academy wieder für ein paar Monate in jener Stadt, die ihn seit den siebziger Jahren nicht mehr losließ. Sein Ziel: Die Geschichte West-Berlins und seine Rolle als „wesentlicher Bestandteil des Kalten Kriegs“ umfassend zu beschreiben und zu analysieren. Und nebenbei die eigene Geschichte aufzuarbeiten.

Wenn der groß gewachsene Historiker mit dem fröhlichen Blick und dem Dreitagebart von früheren Forschungsbesuchen in der geteilten Stadt berichtet, von verschwundenen Treffpunkten wie dem Aschinger am Zoo oder dem Café Ostrowski am Kurfürstendamm, dann ist neben der professionellen Faszination für die einstige Insel West-Berlin auch ein Hauch Nostalgie hörbar – was Barclay zurückweist. Es wäre doch unprofessionell, dem Forschungsobjekt mit Sentimentalität anzuhängen. Dennoch wird man beim Gespräch den Eindruck nicht los: Während manch anderer Berlin-Betrachter von außerhalb meint, die Stadt sei erst mit dem Mauerfall interessant geworden, sieht Barclay das genau umgekehrt.

„Vielleicht liegt es daran, dass ich im Schatten des Zweiten Weltkriegs geboren wurde und immer denken musste: Wäre ich in Berlin aufgewachsen, hätte ich die Blockade miterlebt“, erklärt er die Faszination, die er als Amerikaner ohne deutsche Wurzeln für Berlins Westteil seit jungen Jahren empfindet. Ein Professor machte ihm als Student die deutsche Geschichte schmackhaft, bis heute begeistert ihn, dass es darin so viel „Versunkenes“ gibt, wie er beim Gespräch mit Blick auf den Ku’damm sagt: „Preußen, Weimar, und jetzt West-Berlin.“ Dass er das Versunkene nicht konservieren, sondern wiederbeleben will, hat Barclay zuletzt mit einer Biografie Ernst Reuters gezeigt. Der gehört für ihn, neben Willy Brandt, zu den herausragenden West-Berlinern, weil er nicht nur die Stadt regierte, sondern sich bewährt habe als eine Art „Premier- und Außenminister eines kleinen, von Feinden umgebenen Landes, das auf auswärtige Hilfe angewiesen ist“, wie Barclay einen Nachruf der New York Times zitiert.

Einer von Barclays Trümpfen ist, dass er im Laufe seiner regelmäßigen Besuche, bei denen er in Wedding und Kreuzberg, Wilmersdorf und Nikolassee lebte, viele Protagonisten West-Berlins kennenlernte. Als er sich vor 35 Jahren für seine Dissertation durch den Nachlass des SPD-Politikers Rudolf Wissell wühlte, begleitete ihn ein junger Mann von der Historischen Kommission zur Erforschung der Berliner Geschichte: Walter Momper. Seitdem sind die beiden Freunde, und auch für Barclays aktuelles Projekt ist der spätere Regierende Bürgermeister und heutige Parlamentspräsident eine Quelle. Mit Klaus Schütz verbindet Barclay ebenfalls eine lange Bekanntschaft, und wenn der Historiker im Mai in der American Academy über seine Forschungen spricht, wird der frühere Regierende Bürgermeister den Abend moderieren. Rund 100 Zeitzeugen stehen auf der Liste, die Barclay abarbeiten will, um seine Studien zu ergänzen, die er derzeit im Landesarchiv, beim Tagesspiegel und an anderen Orten betreibt, an denen die Geschichte lagert. Neben Richard von Weizsäcker oder Egon Bahr stehen auch Kollegen auf der Liste, wie Berlin-Forscher Harold Hurwitz, der unter anderem die Einstellung der West-Berliner zum Boykott der von der DDR betriebenen S-Bahn ermittelte.

„Die Frontlage war immer zu spüren“, fasst der Historiker die Atmosphäre jener Zeit zusammen, die er so faszinierend findet. So hat er eine Trennung in zwei Gruppen von West-Berlinern ausgemacht, die bis heute nachwirke: Diejenigen, die vor 1960 geboren wurden und deren Berlin- Gefühl von Krisen, Schikanen und östlichen Drohgebärden geprägt war auf der einen Seite, und die nach 1960 Geborenen, die West-Berlin wegen der Entspannung nach dem Viermächteabkommen Anfang der 70er Jahre als „Insel der Geborgenheit“ erlebt hätten. Wie sich in dem ummauerten Schutzraum politische und kulturelle Trends stärker als andernorts entwickelten, will Barclay unter anderem am Beispiel der Studentenbewegung und des Kultur- und Subkulturlebens untersuchen. Und dabei vielleicht auch erleben, ob eine andere Prognose zutrifft, die er für West-Berlin wagt: „Es hat an Glanz verloren, aber gewinnt wieder an Bedeutung.“

Vortrag von Barclay über Ernst Reuter und West-Berlin am 2. Mai, 20 Uhr, American Academy, Am Sandwerder 17-19, Wannsee, Anmeldung unter www.americanacademy.de oder Telefon 804 83-0

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