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Berlin: Der große kleine Unterschied

Frauen sind anfälliger für Alzheimer und Osteoporose, Männer neigen schneller zur Sucht. Gesundheit ist geschlechterspezifisch. Aber die Medizin reagiert schlecht – und manchmal sogar ungerecht

Schon seit Tagen ist ihr übel. Heute morgen musste sie sogar erbrechen. Und dann diese Schmerzen, die bis in den Rücken ziehen … Die Frau ist krank. Was sie hat? Wäre sie ein Mann, dann würde dieselbe Krankheit sich oft anders, eindeutiger zeigen: mit Brustschmerzen, die sich bis in den linken Arm ziehen. Die Frau hat einen Herzinfarkt.

So unterschiedlich können Symptome für ein und dieselbe Krankheit bei Mann und Frau sein. Besonders der Herzinfarkt wird für Frauen als Todesursache unterschätzt. Damit die Symptome für weiblichen Herzinfarkt nicht weiter unbekannt bleiben, ist gerade eine Kampagne der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen, des deutschen Herzzentrums Berlin, der Apothekerkammer und des Arbeitskreises für Frauengesundheit angelaufen, in den Apotheken liegen jetzt die Poster und Informationsflyer. „Jede Minute zählt!“ steht darauf.

Die Forschung widmet sich den Unterschieden zwischen Mann und Frau nun zunehmend: Gerade im November erst wurde eine Studie der Southern Illinois University veröffentlicht, die feststellt, dass Frauen doppelt so viele Nervenendungen in der Gesichtshaut haben wie Männer, was bedeutet: Frauen sind dort sehr viel empfindlicher, und das aus rein anatomischen – und nicht etwa psychologischen – Gründen. An der Berliner Charité wurde 2004 das „Zentrum für Genderforschung“ gegründet, das sich um die Erforschung des sozialen Geschlechts, besonders bezüglich der medizinischen Unterschiede, kümmert. Außerdem gibt es hier seit Anfang Oktober den ersten Studiengang in Deutschland zum Thema: „Health and Society: International Gender Studies Berlin“ heißt er. Initiiert wurde er von der Anästhesistin Gabriele Kaczmarczyk.

Bei vielen Krankheiten besteht für ein Geschlecht ein wesentlich höheres Risiko, die Gründe sind aber oft noch nicht geklärt. Polyarthritis zum Beispiel, eine rheumatische Krankheit, bekommen vorwiegend Frauen, Gicht Männer. Einen Herzinfarkt zu erleiden, das ist für Männer unter 50 Jahren drei Mal so wahrscheinlich wie für Frauen. Aber: Eine 35-jährige Frau stirbt daran wesentlich häufiger als ein gleichaltriger Mann. „Weshalb das so ist, weiß noch niemand“, sagt Gabriele Kaczmarczyk. Auch neigen Frauen häufiger zu Herzrhythmusstörungen als Männer. Ein Indiz könnte sein, dass die EKGs von Jungen und Mädchen nach der Pubertät geringfügig unterschiedlich sind: Die elektrischen Impulse, die sich im Herzmuskel ausbreiten, sind anders geformt.

Frauen neigen außerdem öfter zu Alzheimer, Migräne und Osteoporose. Sie sind anfälliger für Heuschnupfen und Hautausschläge und Diabetes Typ 2. Männer haben dagegen vier Mal so oft Lungenkrebs.Und: Zehn Mal so häufig sind sie süchtig nach harten Drogen wie Heroin und LSD. Sie begehen auch drei Mal so oft Selbstmord. Jutta Semler, Chefärztin für Innere Medizin am Immanuel Krankenhaus, erklärt sich das mit der Sozialisation von Männern: Wer ständig hört „ein Indianer kennt keinen Schmerz“, der erlernt Mechanismen, Schmerz nicht zuzulassen – oder ihn so lange zu ignorieren, bis eine Kurzschlusshandlung folgt. Wer nicht lernt, Probleme anzuschauen, reagiert extrem, ist empfänglicher für Sucht.

Soziologen bestätigen das. „In einer Studie wurde Testpersonen ein Video mit einem schreienden Baby vorgespielt“, erklärt der Soziologe Rolf Eickelpasch vom Institut für Soziologie in Münster. „Sagte man ihnen, das Baby sei ein Mädchen, reagierten sie stets mit Sorge, etwa: Was hat sie denn?“ Nahmen die Testpersonen an, es sei ein Junge, so war der Tenor: Der hat aber kräftige Lungen.“ Dieses Bild scheint sich unbewusst auf die Therapien auszuwirken, die Frauen verschrieben werden: 70 Prozent aller Frauen bekommen in ihrem Leben Psychopharmaka. „Eine erschreckende Zahl“, sagt Jutta Semler. Bei Frauen würden Ärzte vermehrt nach psychischen Krankheitsursachen suchen und physische missachten, das Umgekehrte gälte für Männer.

Gesundheit ist also geschlechtsspezifisch – aber die Medizin reagiert schlecht. Dass auch Arzneien erheblich unterschiedlich wirken, interessiert die Forscher erst seit kurzer Zeit. Der Frauenkörper besteht zu einem höheren Anteil aus Fett, also können fettlösliche Medikamente besser gespeichert werden. Außerdem besitzen männliche und weibliche Körper unterschiedliche Transportproteine. Betablocker zum Beispiel, die bei bestimmten Herzerkrankungen eingesetzt werden und das sympathische Nervensystem hemmen, wirken bei Frauen stärker als bei Männern. „Deshalb kommt es bei Frauen oft zu Überdosierungen“, sagt Charité-Expertin Gabriele Kaczmarczyk, die auch eine der Sprecherinnen des Netzwerkes Frauengesundheit Berlin ist. Sie fordert Medikamente, die nach Geschlecht und Alter dosierbar sind. „Aber da macht die Pharmaindustrie natürlich nicht mit.“ Nicht lukrativ genug .

Dass der Männerkörper besser erforscht ist, das ist Teil des Problems: Drei Viertel aller Testpersonen in medizinischen Studien sind männlich. Also sind Medikamente auch auf ihren Körper abgestimmt. Ein Beispiel: Angenommen, es gäbe ein neues Rheumamedikament, das am besten wirkt, wenn pro Kilogramm Körpergewicht zehn Milligramm verabreicht werden. Die Verpackungsgröße wird nun passend zur durchschnittlichen Testperson festgelegt. Also werden 250 Milligramm Wirkstoff in jede Tablette gegeben – denn die durchschnittliche Testperson ist nun einmal der 75-Kilo-Mann. Eine 57-Kilo-Patientin bräuchte aber nur 190 Milligramm. Die Folge: Mit jeder Pille nimmt die Frau 30 Prozent zu viel des Wirkstoffs auf. „Für Frauen gilt: Es wird geschluckt, was auf den Tisch kommt“, sagt Gabriele Kaczmarczyk.

Die medizinische Geschlechterforschung bekam in Deutschland 1997 Auftrieb, als die damalige rot-grüne Opposition eine Studie im Auftrag gab, um zu klären, ob Frauen nach einem Herzinfarkt schlechter versorgt werden als Männer. Das Papier wurde zu einer „Drucksache im Bundestag“ und die erschreckende Antwort war: generell zwar nicht – wohl aber, wenn der Herzinfarkt wegen der „untypischen“ Symptome der Frauen nicht sofort erkannt wird. Und das kommt leider nicht selten vor.

Zudem gilt: „Frauen bekommen durchweg billigere Medikamente als Männer verschrieben, und kostspielige Behandlungsmethoden werden vorwiegend bei Männern eingesetzt“, sagt Jutta Semler. Und es gibt noch mehr Beispiele: Die schnellste Hilfe bei einem Herzinfarkt, die Ballondilatation – eine Operation, bei der ein Miniatur-Ballon das Gefäß wieder dehnt, so dass der Herzmuskel gerettet wird –, die bekämen vorwiegend Männer, sagt die Ärztin. Und eine Studie der Barmer Krankenkasse ergab, dass 53 Prozent der Männer, aber nur 35 Prozent der Frauen nach einem Herzinfarkt Medikamente bekommen, die einen zweiten Herzinfarkt verhindern sollen.

Weshalb Frauen billiger behandelt werden, dafür gibt es keine wissenschaftliche Erklärung. Semler wie Kaczmarczyk vermuten eine unbewusste Diskriminierung. „Dem einzelnen Arzt ist das nicht bewusst. Sicher würden Kollegen sich wehren, wenn man ihnen Diskriminierung vorwirft“, sagen sie. Man könne aber vermuten, dass bei Frauen der Gedanke, „das reicht schon“, eher da ist.

Um geschlechtsspezifisch richtig behandelt zu werden, sollen Patienten Eigenverantwortung übernehmen, raten beide Ärztinnen. „Zwei Regeln sind wichtig: Den Respekt vor dem weißen Kittel ablegen und eine zweite, möglichst unabhängige, Meinung einholen, im Falle einer Herzerkrankung etwa beim Deutschen Herzzentrum“, empfiehlt Gabriel. „Ein partnerschaftliches Verhältnis zum Arzt anstreben, zwischen Vertrauen und kritischer Nachfrage“, empfiehlt Jutta Semler.

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