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Berlin: Der "harte Kern" schlägt immer wieder zu

Tod nach Überfall: Gegen den 17jährigen Verdächtigen liefen 82 Ermittlungsverfahren VON JENS ANKER Berlin.Nach der Festnahme zweier 17jähriger, die einen Mann auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße die Treppe heruntergestoßen und zu Tode getreten haben, überlegen Polizei, Parteien und Verbände darüber, wie sie dem Phänomen Jugendkriminalität begegnen können.

Tod nach Überfall: Gegen den 17jährigen Verdächtigen liefen 82 Ermittlungsverfahren VON JENS ANKER

Berlin.Nach der Festnahme zweier 17jähriger, die einen Mann auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße die Treppe heruntergestoßen und zu Tode getreten haben, überlegen Polizei, Parteien und Verbände darüber, wie sie dem Phänomen Jugendkriminalität begegnen können.Die beiden Jugendlichen sind für die Polizei keine Unbekannten.In den vergangenen Jahren ermittelte die Polizei in mehr als 60 Fällen gegen den einen Täter und in mehr als 80 Fällen gegen den anderen.Während Eberhardt Schönberg von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) fordert, "Jugendliche härter zu bestrafen", wollen Polizisten und Sozialarbeiter künftig enger zusammenarbeiten, um Konflikte zu entschärfen und Jugendgewalt vorzubeugen. Im vergangenen Jahr stieg nach Angaben der Justizverwaltung die Zahl tatverdächtiger Kinder und Jugendlicher um durchschnittlich 16 Prozent.Knapp jede zweite Tat ist ein Ladendiebstahl.Besonders stark steigt die Zahl der Raubdelikte bei Jugendlichen.Hier hat sich die Zahl der Täter zwischen 1988 und 1994 auf 16.000 verdoppelt.In Berlin ermittelte die Polizei im vergangenen Jahr rund 40.000 Tatverdächtige unter 21 Jahren. Während jedoch mehr als 90 Prozent der Jugendlichen nicht mehr als zwei Mal mit dem Gesetz in Konflikt kommen, gibt es einen "harten Kern" von weniger als fünf Prozent, die über einen längeren Zeitpunkt straffällig werden.Statt den Strafenkatalog zu erweitern fordert der Bündnisgrünen-Politiker Norbert Schellberg, den vorhandenen Strafrahmen auszunutzen."Für die kleine Gruppe der notorisch Kriminellen müssen die Gesetze nicht geändert werden." Wichtiger ist es nach Ansicht Schönbergs, Täter schneller nach der Tat zu bestrafen.Nach langen Ermittlungszeiten haben jugendliche Täter beim Prozeß den bezug zur Tat verloren.Nach Ansicht von Schellberg wäre es denkbar ähnlich wie im Erwachsenenrecht beschleunigte Verfahren für Jugendliche einzurichten. "Es fehlt an Auffangeinrichtungen", sagt Jugendanwältin Regina Starke zu den Motiven Jugendlicher, straffällig zu werden.Das Defizit an Freizeitangeboten führe dazu, daß Jugendliche keine Interessen mehr entwickelten.Dazu komme bei vielen eine perspektivlose Zukunft, so daß sie keine Alternative zur Krimminalität für sich sähen. Nach Ansicht des GdP-Chefs Schönberg ist die Entwicklung der Jugendkriminalität "beängstigend".Es gebe Jugendliche, die man als Schwerkriminelle bezeichnen müsse."Die muß man einsperren," sagt Schönberg. Unterdessen werden in Berlin Modelle erprobt, wie man durch engere Kooperation von Polizei und Sozialarbeit Jugendgewalt vorbeugen und Konflikte etwa zwischen Jugendclubs, Anwohnern, Schule und Jugendgerichtshilfe schlichten kann.Polizisten und Sozialarbeiter aus Kreuzberg und Neukölln beendeten jetzt eine fünfmonatige Fortbildung der "Clearingstelle Jugendhilfe/Polizei".Auf dem Programm standen Vorträge unter anderem zu "Struktur und Organisation der Jugendhilfe und der Polizei" sowie über das Jugendstrafrecht von Oberstaatsanwalt Victor Weber."In erster Linie ging es darum, Erfahrungen auszutauschen und Vorurteile abzubauen", berichtete Projektleiterin Renate Haustein von der Präventionsstelle, die seit zweieinhalb Jahren mit Geldern aus "Jugend mit Zukunft" gefördert wird. "Aus Sicht eines Polizisten ist der Sozialarbeiter Komplize und Mitwisser straffälliger Jugendlicher.Aus der Perspektive des Sozialarbeiters wiederum wirkt die Polizei als Machtwerkzeug eines repressiven Staates", beschrieb Neuköllns Jugendstadtrat Heinz Buschkowsky (SPD) gängige Klischees."Statt im Konfliktfall gemeinsam deeskalierend zu wirken, kommt es stattdessen oft zum großen Knall." Ein Beispiel: In einem Jugendfreizeitheim gibt es Ärger, weil eine unerwünschte Gang auftaucht.Schnell wählen Anwohner oder Mitarbeiter den Polizeinotruf "110" - "und dann rollen Einsatzfahrzeuge mit Beamten in Uniform an", sagte Dieter Martens, zuständig für die drei Jugendclubs in der Neuköllner Altstadt.Sinnvoller sei es hingehen, den für Jugendsachen zuständigen Mitarbeiter des Polizeiabschnitts anzurufen und in Ruhe ein Gespräch mit den Kontrahenten zu führen. "Polizei verdrängt, aber löst die Probleme nicht", brachte Martens seine Überzeugung auf den Punkt.Kiez-Gesprächsrunden mit Anwohnern, Lehrern, Eltern, Polizei und Sozialarbeitern hält auch die Leiterin der Zentralstelle für Jugendsachen, Christine Burck, für die bessere Lösung."Wenn man sich persönlich kennt, kann man im Konfliktfall besser zusammenarbeiten", pflichtete Katrin Werdermann, Polizeikommissarin und Fortbildungsteilnehmerin, bei.Künftig soll es derartige Projekte auch in anderen Bezirken geben, sagte Renate Haustein von der "Clearingstelle Jugendhilfe/Polizei" (Telefon 4490096), an die sich im übrigen jedermann wenden kann. "Wir sind froh, dieses Projekt bei uns im Bezirk zu haben", sagte Jugendstadtrat Buschkowsky.27.000 Arbeitslose allein in Neukölln - "da eifert man den materiellen Idealen der Gesellschaft eben nach, in dem man Jacken abgezieht und Geld stiehlt." Die beiden festgenommenen Jugendlichen müssen sich jetzt wegen Körperverletzung mit Todesfolge vor dem Gericht verantworten.

JENS ANKER

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