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Keiner da: Der Bundestag am Wahlsonntag.

© Mike Wolff

Der leere Bundestag am Wahlsonntag: Hereinspaziert!

Leere Sitze und das Grundgesetz auf Büttenpapier: Am Wahlsonntag ist der Bundestag leer, denn die Alten sind nicht mehr da und die Neuen liegen noch in der Urne. Ein Rundgang.

High Noon im Bundestag. 4451 Kandidaten möchten dem deutschen Volke dienen und haben sich zur Wahl gestellt, aber es gibt nur 620 blaue Sitze da unten im Saal, wo der silberne Adler schlaff an der Wand hängt und auf seine Beute wartet. Um zwölf Uhr ist es am Wahlsonntag merkwürdig tonlos in den 11 000 Quadratmetern Nutzfläche des Reichstagsgebäudes mit seinen Fluren und Sälen und Sitzungszimmern, nur die Bediensteten sprechen dies und das in die rauschenden Handytelefone. Kein Volksvertreter weit und breit. Die sitzen in Hotels oder daheim zwischen Rhein und Oder am Fernsehapparat oder im Garten. Wer wird da ab Montag durch die Gänge wandeln?

Wer wird dann verwundert die kyrillischen Buchstaben studieren, die wie Blei an den Pfeilern kleben und erzählen, dass dieses Haus einst mit stolzer Siegerbrust gestürmt wurde, im April 1945, als alles in Scherben gefallen war? Das neue Reichstagsgebäude von Sir Norman Foster ist am Wahlsonntag ein leeres Haus. Im Casino sitzen zwei Journalisten (wir) und essen ein Würstchen, beim Restaurant Käfer ist alles ausgebucht, zwei deutsche und eine holländische Reisegruppe haben sich angemeldet. Ein Nachrichtensender hat sein Studio auf dem Dach des Hohen Hauses aufgebaut: 24 Scheinwerfer, Wind, aufgeplusterte Kameras. „Hier ist es wie immer“ sagt eine Aufsichtsperson – wer sich um zwölf draußen am Container anstellt, kommt schon um 15 Uhr ins Gebäude. Aber nur auf die Kuppel.

Der Blick von oben: Auch in der Eingangshalle herrscht weitgehend Leere.
Der Blick von oben: Auch in der Eingangshalle herrscht weitgehend Leere.

© Mike Wolff

In der inneren Leere begegnet einem im Wandelgang der Plenarebene hinter Glas das Faksimile des Grundgesetzes von 1949 mit Konrad Adenauers schwungvoller Unterschrift auf Büttenpapier, Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 auf Helgoland verfasste Hymne (komplett) und ein „Tisch mit Aggregat“ von Joseph Beuys, zwei Kugeln am Fußboden, die bei mir Terroristenbömbchen assoziieren, was aber sicher daran liegt, dass man einfach zu viel fernsieht.

Apropos Fernsicht: Unter der gläsernen Kuppel findet auch am Wahltag ohne Unterlass das übliche Begängnis statt. Deutsche Wahlbürger und solche, die das nie werden wollen, weil sie als Touristen von janz weit draußen kommen (Spanien, Russland, China und USA), mischen sich hier auf dem Berliner Gipfel der Völkerverständigung.

Den Ausländern ist die Wahl ziemlich egal, den Deutschen nicht: „Wir wünschen, dass alles so bleibt und nichts schlechter wird“, sagt ein Ehepaar aus Buxtehude, „wir sind brave Bürger.“ Aber dass die versprochene Führung durchs Haus ausfällt, ärgert sie. Zwei Düsseldorfer weisen auf „das größte Wahlplakat der Welt“ am Hauptbahnhof, die gespreizten Hände der Frau M.: „Alles nur Show. Als ob sie Deutschland erwürgen möchte.“

Eine andere Sicht hat der Schriftsteller Reinhold H. Jatzko („Gedanken zwischen Raum und Zeit“), der auf der Kuppel die Kopfhörer für die akustische Führung verteilt: „Ich wünschte, dass die Leute nicht über alles meckern und dass sich die Neuen in unserem Haus auch mal ohne Streit einigen.“ Es lebe der gesunde Menschenverstand! Dass manchmal aus der Streiterei noch etwas herauskommt, sieht man von der Kuppel aus: Die Kräne als Skyline des neuen Berlin. Eine Stadt im Aufbruch, immerzu.

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