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Berlin: Der Mauerbau: Im Pendelverkehr durch den Eisernen Vorhang

Längst ist alles Westen geworden am Bahnhof Friedrichstraße. Die gelb gekachelte Ödnis im Labyrinth des einstigen Grenzübergangs ist geschliffen.

Längst ist alles Westen geworden am Bahnhof Friedrichstraße. Die gelb gekachelte Ödnis im Labyrinth des einstigen Grenzübergangs ist geschliffen. In der granitgrauen Haupthalle spiegeln sich Passanten in den Glasfronten der Einkaufspassage. Wer hier wartet, trinkt keinen Kaffee, sondern Latte Macchiato. Manfred Portzig steht im Strom reisender Konsumenten, als versuche sein inneres Auge das Einheitsgrau ins Kachelgelb der Vorzeit zu verwandeln. Dort drüben, wo heute Fisch als "Seafood" zum Erlebnis wird, stand vor zwölf Jahren die Auftragsstelle für S-Bahnführer - für Portzig damals erste Station bei jedem Dienstantritt zum Pendelverkehr zwischen den Welten. Der Reichsbahner fuhr S-Bahnzüge von Friedrichstraße zum Lehrter Stadtbahnhof. Er passierte den Eisernen Vorhang zwischen Ost und West im Zehn-Minuten-Takt.

Zum Thema Online Spezial: 40 Jahre Mauerbau Fotostrecke: Die Mauer in Bildern Hinter dem Schalter der Auftragsstelle lag, sicher verwahrt, der Dienstausweis Nr. 3706. Der 57-Jährige hat ihn behalten. Auf der Rückseite klebt der rote Zettel mit der Sondererlaubnis: "Der Inhaber dieses Dienstausweises ist berechtigt, zur Ausübung seines Dienstes in Westberlin, die Staatsgrenze zwischen Berlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik und Berlin (West) zu überschreiten."

Ein Dokument des Vertrauens, das die DDR nur wenigen Bürgern ausstellte. "Ich musste regelmäßig zur politischen Belehrung, man kann auch Berieselung sagen. Das letzte Wort hatte natürlich das Ministerium für Staatssicherheit. Meine Familie wurde überprüft, die materiellen Verhältnisse. Die haben sogar die Nachbarn befragt", erzählt Portzig. Ergebnis: keine Fluchtgefahr. 1987 bekam Portzig den Sonderdienstausweis, zunächst als Kontrolleur für Fahrzeug- und Anlagentechnik im Betriebswerk Grünau.

Nachdem die Siegermächte 1945 die Betriebsrechte für die S-Bahn der Deutschen Reichsbahn überlassen hatten, blieb die Ost-Berliner Reichsbahndirektion für das Streckennetz im Westteil der Stadt verantwortlich. Mit dem Mauerbau im August 1961 und der Abtrennung des S-Bahnnetzes von den Westsektoren wurde der Bahnhof zum Grenzübergang. Der Zugang zur Fernbahnhalle mit den S-Bahn-Gleisen von und nach West-Berlin wurde zum hermetisch abgeriegelten Hochsicherheitstrakt ausgebaut. 1984 trat die DDR die Betriebsrechte für den S-Bahnverkehr im Westteil an die BVG ab. Auf DDR-Staatsgebiet waren S-Bahnführer aus dem Westen allerdings unerwünscht. Am Lehrter Stadtbahnhof, dem letzten Halt der S 3 aus Richtung Wannsee, mussten die BVGler die Führerstände verlassen. Ost-Berliner Reichsbahner lösten sie ab und fuhren die Züge durchs Grenzgebiet zum Bahnhof Friedrichstraße und zurück.

"Tagsüber verkehrten die Züge alle zehn Minuten. Da waren zwei Männer eingesetzt. Nachts war nur einer im Dienst." Die Personaldecke war dünn, Anfang 1989 brach sie ein - wegen Urlaubs- und Krankheitsausfällen suchte die Reichsbahndirektion dringend nach Fahrern mit dem Sonderdienstausweis für den kleinen Grenzverkehr. Manfred Portzig meldete sich zum Pendeldienst.

Ein "eigenartiges Gefühl" begleitete ihn, als er zum ersten Mal die Grenzkontrolle am Bahnhof Friedrichstraße passierte. Sein Weg zum Dienst führte, wie für alle Westreisenden, durch den "Tränenpalast". Mitten durch diese Halle verlief die Mauer. Eine hohe Stahlwand trennte seit 1982 den Bahnsteig C, wo die S-Bahnzüge aus Ost-Berlin endeten, vom Bereich des Fernbahnhofs. Hier, auf den Bahnsteigen der abgeschirmten Fernbahnhalle, klingelte die D-Mark in den Kassen der Intershops. "Wir bekamen pro Schicht drei Westmark, damit wir uns eine Bockwurst kaufen konnten."

Die Fahrt über die Hochbahnbrücke führte durch ein vergittertes Nadelöhr. Die ein Kilometer lange Strecke war besonders gesichert. "Der Schienenweg war von drei Meter hohen Drahtzäunen gesäumt, Grenzsoldaten überwachten die Strecke lückenlos von Wachtürmen aus, die seitlich am Viadukt angebracht waren", erzählt Manfred Portzig. Fluchtversuche, sagt er, hätten hier nur tödlich enden können. "Selbst wenn es jemandem gelungen wäre, auf die Hochbahn zu klettern und den Drahtzaun zu überwinden, hätte er auf einen Zug in voller Fahrt springen müssen. Sobald ich jemanden auf den Schienen gesehen hätte, wäre es wegen des langen Bremsweges zu spät gewesen."

Auch die Reichsbahner hatten klare Verhaltensvorgaben. "Bei Halt auf freier Strecke auf keinen Fall aussteigen. Warten bis die Grenzer kommen. Die Türen unter Druck halten, damit niemand den Zug verlassen kann." Und: "kein persönlicher Kontakt zu den Mitarbeitern von der BVG". Doch mit dieser Regel, erinnert sich Portzig, nahm man es nicht so Ernst. Beim fliegenden Wechsel im Führerstand entspann sich am Lehrter Stadtbahnhof so mancher Small Talk. "Die BVG-Kollegen war sehr nett, der Kaffee war ausgezeichnet. Wir hatten ein kleines Wartehäuschen auf dem Bahnsteig. Da lag auch immer etwas Literatur." West-Berliner Tageszeitungen meistens - verbotene Lektüre verkürzte die Wartezeit.

Doch der Bahnsteig im Lehrter Stadtbahnhof blieb das einzige Stück Westen, das Manfred Portzig vor dem Fall der Mauer kennen lernte. Auf die Idee, den Bahnhof zu verlassen, um einen kurzen Blick auf den West-Berliner Alltag zu werfen, sei er nie gekommen. "Die Zeit dafür wäre zu knapp gewesen." Minutenstrenge diktierte den Schichtplan. "Es war genau geregelt, wann ich den Dienstausweis wieder an der Auftragsstelle abzugeben hatte."

An Flucht habe er nie gedacht, sagt Portzig. Schließlich warteten zu Hause Frau und Tochter. Im Laufe des Jahres 1989 sprang Portzig, der Kontrolleur im Range eines Bahnrats, immer wieder wochenweise ein, wenn es im S-Bahn-Grenzverkehr am Bahnhof Friedrichstraße an Fahrern fehlte. Natürlich meldete er sich freiwillig zum Dienst, als es besonders eng wurde, am 10. November, dem Tag nach dem Mauerfall. "Die Züge waren so voll, dass wir kaum in die Führerstände kamen. Die Menschen drängelten sich hinein, obwohl es schon brechend voll war. Da habe ich mich ganz cool auf den Bahnsteig gestellt und gesagt: Also, ihr wollt alle in den Westen, aber ich glaube nicht, dass der Zug sich ohne mich bewegt." An diesem Tag verlor Manfred Portzig sein Privileg. Sein Sonderdienstausweis war nur noch ein Blatt Papier mit musealem Wert.

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