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Berlin: Der Pionier mit dem Pendel

Kieferoperationen ohne Narkose? In Lübeck setzt der Chirurg Dirk Hermes Hypnose ein, um die Patienten zu beruhigen. Er suggeriert ihnen, der Sauger sei Meeresrauschen und die OP-Lampe Sonnenschein

Der Patientin geht es so richtig gut: Gemütlich streckt sie sich auf der Strandliege aus und lässt die Sonne scheinen.

„Entspannen Sie sich und beobachten Sie die Menschen um sich herum“, murmelt eine männliche Stimme. Die Patientin gehorcht. Sie entdeckt viele bekannte Gesichter. Sieben Jahre fährt sie schon an diesen Strand auf Mallorca, es ist ihr Lieblingsort. Die Leute am Strand können sie allerdings nicht sehen. Diese Reise findet nämlich nur im Kopf statt. Der Körper ist 1700 Kilometer entfernt von Mallorca: Er liegt auf einer mit grünem Papier bespannten Liege in der Lübecker Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.

Dort scheint nur eine OP-Lampe auf die Frau herunter, die männliche Stimme gehört nicht zu einem Strandbeau, sondern zu Dirk Hermes, Oberarzt – und der operiert gerade eine Zyste am Unterkiefer. Schnitt an den Unterkieferzähnen oberhalb der Zyste, Schleimhaut vom Knochen ablösen, Knochen auffräsen, so dass man die Zyste sehen kann, Zyste ausschälen, mit Knochenersatzmaterial auffüllen, Schleimhaut zurückschlagen und nähen. Eine halbe Stunde blutige Arbeit – und die Patientin bekommt kaum etwas mit. Hermes hat sie hypnotisiert.

Was Hermes da tut, ist eine Revolution. Der 41-Jährige ist der erste Chirurg in Deutschland, der Hypnose als Narkose einsetzt. Rund 350 Operationen hat er auf diese Weise bisher durchgeführt – von Unterkieferbrüchen bis hin zu Tumoren im Gesicht. „Ich lehne Vollnarkose natürlich nicht generell ab; ich genieße es, Narkoseärzte zur Verfügung zu haben“, sagt er. „Aber ich vermeide Narkose, wenn sie nur deshalb notwendig erscheint, um gute Behandlungsmöglichkeiten für den Chirurgen zu schaffen.“ In manchen Fällen sei Narkose auch schlicht unmöglich, zum Beispiel bei einem Patienten mit einem handballgroßen Geschwür an der Wange, den er vor kurzem behandelt hat. „Der Mann lief jahrelang vergeblich zu Ärzten, aber weil er schon mehrere Herzinfarkte hatte, wollte ihm niemand eine Vollnarkose geben.“

Hermes hat den Mann also unter Einsatz von Lokalanästhesie und Hypnose operiert und den Tumor mit Erfolg entfernt. Aber auch in minder schweren Fällen sei Hypnose geeignet: bei Angstpatienten – „es ist massiv belastend, wenn ein paar Millimeter vorm eigenen Auge das Skalpell kreist“ –, bei Menschen mit ausgeprägtem Würgereiz oder Allergien gegen Betäubungsmittel. Bei einer Hypnose kann Hermes die Gabe von Lokalanästhetika bis um die Hälfte verringern.

Dirk Hermes ist ein ehrlicher Mann. Er sei selber ein „totaler Arztschisser“, sagt er, und er konnte sehr gut nachvollziehen, dass seine Patienten total verängstigt zu ihm kamen. Aber Hypnose erleichtert auch ihm die Operationen. 2002 hat er damit angefangen. Er hat eine Ausbildung absolviert, die die Deutsche Gesellschaft für Zahnärztliche Hypnose (DGZH) anbietet. Er hatte damals ein wenig Angst, dass es dort „furchtbar esoterisch“ sein würde, aber dann waren die Ausbilder ganz handfest. Kein Klischee hat sich bewahrheitet. Ein Pendel benutzt er nur selten. Und er richtet seine Patienten natürlich auch nicht dazu ab, wie ferngesteuert absurde Handlungen zu vollziehen. Mit Showhypnose habe seine Arbeit gar nichts gemein, sagt Hermes.

Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Hypnose?

„Hypnose oder auch Trance bezeichnen einen Zustand der Tiefenentspannung, in dem die Aufmerksamkeit auf Vorgänge im Innern konzentriert ist, während die äußeren Einflüsse verblassen“, sagt der Tübinger Psychologieprofessor Dirk Revenstorf. Er ist einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Hypnose und hat in zahlreichen Studien deren Merkmale untersucht. Er sagt: In Trance haben Menschen ein gesteigertes Vorstellungsvermögen. Rationale Überlegungen verlieren an Bedeutung. Die Fähigkeit, unliebsame Wahrnehmungen abzuspalten, – Dissoziation – nimmt zu, und die subjektiv empfundene Zeit verkürzt sich etwa um die Hälfte.

Erzeugt wird eine Trance, indem man sich mit Hilfe von Atemübungen oder Musik entspannt und dann ein Ereignis vor seinem inneren Auge wachruft. Dirk Hermes fordert seine Patienten zum Beispiel auf, an ein besonders schönes Urlaubserlebnis zu denken. „Mit gezielten Fragen unterstütze ich die Patienten dabei, sich möglichst konkret zu erinnern“, sagt er. Sobald Hermes die typischen Anzeichen dafür bemerkt, dass der Patient in Trance versinkt, Lidflattern zum Beispiel, körperliche Starre und eine ruhige Atmung, beginnt er mit der Behandlung.

In Trance sind Menschen besonders empfänglich für Botschaften an das Unbewusste, so genannte Suggestionen. Mit ihrer Hilfe kann der Arzt Umdeutungen vornehmen, und so verwandelt sich das Surren des Saugers in das Rauschen von Wind. „Nach einer Weile sind meine Patienten so sehr mit den schönen Bildern in ihrem Kopf beschäftigt, dass sie die Operation gar nicht mehr kratzt.“

Es ist allerdings bisher immer noch nicht ganz erforscht, wie Hypnose sogar Schmerzen ausblenden kann, wie sie bei Operationen anfallen. Dirk Hermes sagt: „Es gibt Dutzende von Theorien, aber des Pudels Kern hat noch keiner gefunden.“ Einige Studien deuteten darauf hin, dass Hypnose körpereigene Opiate freisetzt. Aber am plausibelsten erscheint ihm schlicht und einfach, „dass Schmerzen besonders intensiv empfunden werden, wenn man Angst hat, weil man in Alarmstimmung ist, und wenn man total entspannt ist, dann kann man Schmerzen besser ab“.

Die physiologischen Begleiterscheinungen von Hypnose sind inzwischen gut erforscht: Herzfrequenz und Blutdruck sinken, die Blutgefäße erweitern sich. Auch der Stresshormonspiegel fällt, Reflexe lassen sich nur noch mit Mühe auslösen. Mit bildgebenden Verfahren, die Aufschluss über die Aktivität der Hirnareale geben, weisen Forscher außerdem eine erhöhte Aktivität der rechten Gehirnhälfte nach, dem Sitz für Intuition und Kreativität – ein deutliches Zeichen, dass unter Hypnose eine Abkehr von logischen Denkmustern stattfindet.

Das Phänomen der Absorption kennt jeder auch aus dem Alltag: Egal, ob man lange joggt oder in ein Buch vertieft ist – wann immer man hochkonzentriert und hingebungsvoll bei der Sache ist, begibt man sich in eine leichte Trance. „In Trance zu sein, gehört zu den natürlichen menschlichen Fähigkeiten, auch wenn man das in der westlichen Welt meist ausblendet“, sagt der Wissenschaftler Revenstorf.

Obwohl die Wirkweise der Hypnose noch nicht bekannt ist – ihre Wirksamkeit haben zahlreiche Studien mittlerweile belegt, und immer mehr Ärzte setzen sie ein: bei Migräne, Asthma, Tinnitus, Neurodermitis, zur Schmerzlinderung in Onkologie und Gynäkologie, und besonders in der Zahnmedizin. Inzwischen bieten bundesweit mehr als 1000 Zahnärzte Hypnosebehandlungen an.

Dirk Hermes gelingt es manchmal kaum, seine Patienten zum Gehen zu bewegen. „Erde an Mallorca“, sagt der Chirurg schon zum dritten Mal, der Unterkiefer-Eingriff ist beendet. „Der Urlaub ist vorbei, es geht nach Hause“, sagt Hermes. Die Patientin verlässt den OP nur widerwillig.

Kontakte

1. Dt. Gesellschaft für Hypnose

02541/88 07 60, www.dgh.de

2. Milton H. Erickson Gesellschaft für Klinische Hypnose, in Berlin: Dr. Wolfgang Lenk 030/781 77 95, www.meg-hypnose.de

3. Dt. Gesellschaft für Zahnärztliche Hypnose, 0711/236 06 18, www.dgzh.de.

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