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Berlin: „Der Rechtsstaat gilt auch für Sexualstraftäter“

Nach Freilassung von notorischem Kinderschänder lehnen Politiker parteiübergreifend härtere Gesetze ab und warnen vor Populismus

Der Fall wühlt Emotionen auf. Sexualstraftäter Manfred L. ist trotz der gerichtlichen Einschätzung als „nach wie vor gefährlicher Mann“ nach fast 25-jähriger Haft wieder auf freiem Fuß. Ursache ist unter anderem ein Justizfehler bei seiner letzten Verurteilung vor sieben Jahren. Ein Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung war am Freitag wie berichtet abgewiesen worden, weil während der Haft keine „neuen Tatsachen“ aufgetaucht sind, die nicht schon beim Urteil bekannt waren, urteilte das Gericht.

Das ist für manchen nur schwer zu verstehen. Politiker quer durch die Parteien warnten jedoch am Tag nach der Entscheidung davor, den Rechtsstaat in Frage zu stellen oder nach härteren Gesetzen zu rufen. „Das Gericht konnte nicht anders entscheiden“, sagte der SPD-Rechtspolitiker Fritz Felgentreu. „Wir profitieren alle von den Verfahrensgarantien des Rechtsstaates, da kann man nicht bei einzelnen Fällen andere Maßstäbe anlegen.“

Michael Braun, rechtspolitischer Sprecher der CDU im Abgeordnetenhaus, weist darauf hin, dass Täter wie L. – er hatte wiederholt Jungen sexuell missbraucht – in der Regel nur für ihre Taten weggesperrt werden können, nicht für etwas, das sie möglicherweise in der Zukunft tun. Vorbeugend könne man L. nur einsperren, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit sei. Das müsse in dem weiter laufenden Verfahren geklärt werden – die Staatsanwaltschaft hatte am Freitag Beschwerde eingelegt und Revision beim Bundesgerichtshof angekündigt. Generell beklagt der CDU-Politiker, dass im Strafrecht der Opferschutz zu wenig beachtet werde. Den aktuellen Vorgang sieht er aber als Einzelfall, der sich nicht für populistische Forderungen eigne.

Die Staatsanwaltschaft hatte vergeblich versucht, die Entlassung des 56-Jährigen durch nachträgliche Anordnung einer Sicherungsverwahrung zu verhindern. Wieder einmal wurde deutlich, wie hoch die Hürden dafür sind. Die Verhängung einer nachträgliche Sicherungsverwahrung setzt voraus, dass erhebliche neue Tatsachen während des Vollzugs erkennbar wurden. So heißt es in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Das können nur Tatsachen sein, die nach der letzten Möglichkeit, Sicherungsverwahrung anzuordnen, erkennbar wurden. Das war bei L. laut Gericht nicht der Fall.

Unterdessen sind manche Eltern beunruhigt wegen des Sexualstraftäters auf freiem Fuß. Fachleute appellieren an die Aufmerksamkeit von Müttern und Vätern, sie sollten auch ihre Söhne davor warnen, sich auf fremde Männer einzulassen. Wie beim sexuellen Missbrauch an Mädchen auch, stammen an Jungen oder jungen Männern interessierte Täter oft aus der Familie selbst: Es sind Väter, Lebensgefährten, Onkel oder Großväter. Oder es ist der so genannte „gute Freund“ der Familie: Der Nachbar, der Sportskamerad oder der Bekannte, der mit ihnen Eis essen oder ins Schwimmbad geht und sich ihre Zuneigung erwirbt. Die Täter bieten den Kindern etwas, was sie bei den Eltern vermissen – und die Kleinen trauen sich nicht, eine Gegenleistung zu versagen.

Kerstin Gehrke[Annette Kögel], Lars von T&

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