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Berlin: Der Rosengärtner im Roten Rathaus

Tino Schwierzina, der erste frei gewählte Ost-Berliner Oberbürgermeister, ist am Montag gestorben. Sein ehemaliger Stellvertreter Thomas Krüger würdigt ihn

Am Tag seines 63. Geburtstages begann sein unglaubliches zweites Leben. Am 30. Mai 1990 wurde Tino Schwierzina von der ersten frei gewählten Stadtverordnetenversammlung nach dem Fall der Mauer zum Oberbürgermeister von Ost-Berlin gewählt. Seine Aufgabe war es, so schnell es ging, sich überflüssig zu machen. Das hat ihm gefallen, und er hat sich mit Freude ans Werk gemacht.

Er hatte sich schon aufs Privatisieren in der realsozialistischen Nische eingestellt. Seine Passion war es, mit seiner sympathischen Frau und kritischen Wegbegleiterin einen Rosengarten zu bestellen. Er hat sich hinter seiner Rosenhecke nicht verschanzt. Sonst wäre ihm der Spätherbst des SED-Systems und sein einsetzender Verfall entgangen.

Als einer der ersten war Tino Schwierzina zur Stelle, als sich im November 1989 die Ost-Berliner SDP konstituierte. Und als beim Parteitag im Februar 1990 seiner inzwischen wieder in SPD umbenannter Partei guter Rat teuer war, hat er sich coram publico zu Wort gemeldet. Und mit seiner Altersweisheit und Rechtskenntnis ein bisschen Ordnung in das kreative Chaos gebracht. Das haben ihm die Genossen mit der Spitzenkandidatur zu den Stadtverordnetenwahlen gedankt. Wenn er gewusst hätte, was ihn erwartet. Dass er Geschichte schreiben wird, Staatsmännern die Hand gibt, von Demonstranten belagert wird.

Am 6. Mai 1990 wurde die SPD bei den Kommunalwahlen in Ost-Berlin vor der PDS stärkste Partei und Tino Schwierzina damit designierter Oberbürgermeister. Es kam zur Koalition mit der ungeliebten Blockpartei CDU, da das Bündnis 90 als natürlicher Partner nicht genügend Stimmen errang. Der Koalitionsvertrag sah – trotz CDU-Beteiligung – dem rot-grünen der anderen Stadthälfte auffällig ähnlich, doch sollten die Motorbootfahrer auf dem Müggelsee freie Fahrt und die Polizisten Namensschilder ans Revers bekommen. Der parlamentarische Auftakt war dann jedoch denkbar unglücklich. Die West-Berliner Spitzengenossen kamen auf die zwar charmante, aber schlecht eingefädelte Idee, die Senatoren Nagel, Meisner und Volkholz zugleich zu Stadträten wählen zu lassen. Tino Schwierzina musste das ausbaden und seine von der Bild-Zeitung informierte und also murrende Fraktion folgte ihm und übernahm die Stadtratsposten dann selber.

Stattdessen präsentierte die Ost-Berliner CDU dann Elmar Pieroth als Wirtschaftsstadtrat, der sich jedoch sofort in den Urlaub nach Südfrankreich aufmachte. Schwierzina zitierte ihn unter großem öffentlichem Amüsement zurück nach Berlin und wies ihn darauf hin, dass auch im Magistrat die im Senat bekannten Abmeldepflichten gelten würden.

Berlin wuchs zusammen. Im Eiltempo. Noch vor dem Vertrag zur Währungsunion tagten Magistrat und Senat zum ersten Mal gemeinsam. Sie bildeten die gemeinsame Berliner Landesregierung, quasi das Gegenstück zu den Beitrittsszenarien auf Bundesebene. Der „Magi-Senat“ mit seinen Kräfte zehrenden Mammutsitzungen war geboren und die taz personifizierte ihn postwendend als „Schwierzomper“. Ein gutes Gefühl für Tino Schwierzina, den Ost-Berlinern eine Vereinigung auf Augenhöhe anzubieten und darüber hinaus sogar eine ernst gemeinte Verfassungsdiskussion.

Er kannte das vereinte Berlin vor seiner Teilung. Er hat Willy Brandt verehrt und mit ihm die demokratische Alternative im Gedächtnis behalten und sich vermutlich nach ihr am meisten gesehnt, wenn ihn der sozialistische Alltag mit all seinen Petitessen und Verpflichtungen einholte. Wie sollte der auch an seiner Generation spurlos vorübergehen. Vielleicht ist es auch diese Ambivalenz von Hoffnung und Schmerz, die seine Neigung zu den Rosen nährte, auf deren Pflege er sich zu DDR-Zeiten und nach seiner intensiven politischen Zeit 1990 als Ost-Berliner Oberbürgermeister und dann bis 1995 als Vizepräsident des Abgeordnetenhauses konzentrierte.

Tino Schwierzina nahm übrigens den Rat von Freunden und Beratern an: eine Gabe, die Politikern gewöhnlich eher abgeht. Er hatte eine natürliche, sehr authentische Art, seine Stadthälfte zu vertreten. Als die ersten Demonstranten vor dem Roten Rathaus standen, war er ganz in diesem Sinne der erste, der sich ihre Forderungen zu Eigen machte. Politik war für ihn immer mehr eine bürgernahe Dienstleistung als das machtvolle Durchsetzen von übergeordneten allgemeinen Interessen. Die Öffentlichkeit nahm ihm dennoch seine sichtbar befristete Rolle als politischer Repräsentant ab. Er hatte keine Karriereabsichten mehr. Es war vielmehr eine äußerst konkrete Utopie, in deren Dienst er sich voll und ganz stellte: die Wiedervereinigung Berlins.

Tino Schwierzina war so etwas wie der inkarnierte homo politicus der Wendezeit. Er war nüchterner Pragmatiker, bekennender Demokrat mit dem gebotenen Blick für Wichtiges und Unwichtiges, jungfräulich ehrlich und naiv in Sachen politischer Technik und oft fassungslos, was die mediale politische Welt so an Überraschungen bereithielt. Die ostdeutschen Politiker der Wendezeit waren, im Westen ankommend, vielleicht nur von dem komplexen Ausmaß an Freiheit überrascht, dem demokratischen Grundwert, der ihnen von dem SED-System am intensivsten abgewöhnt wurde.

Mit entwaffnender Offenheit und Gutmütigkeit haben sich aber Ostdeutsche wie Tino Schwierzina 1989 und 1990 auf den Weg in das wiedervereinte demokratische Deutschland gemacht. Sie waren und sind wichtige Sympathieträger, die den Vereinigungsprozess in die Herzen getragen haben, die gezeigt haben, dass die Vereinigung wirklich gewollt war, wie schwierig das dann in den Mühen der Ebene und mit den verletzten Seelen und Biografien auch wurde und immer noch ist.

Thomas Krüger

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