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Wild Wedding. In der Silvesternacht dürften in einigen Teilen der Stadt wieder besonders viele Pistolen zum Einsatz kommen. So wie hier bei einem früheren Jahreswechsel in Wedding.

© Georg Schoenharting / VISUM

Silvester: Die Gefahr der Schreckschusswaffen

Rund eine Million Schreckschusswaffen gibt es nach Schätzungen allein in Berlin. Zu Silvester kommen wahrscheinlich wieder besonders viele zum Einsatz. Der Gebrauch hat oft verheerende Folgen.

Bald geht’s los. „Dann wird wieder Krieg gespielt“, sagt ein Polizeibeamter. Er meint die Silvesternacht, in der auf den Straßen geböllert und – immer beliebter – auch geballert wird. Kracher und Knaller reichen vielen nicht. Sie feuern lieber Pyrotechnik aus Schreckschusspistolen ab. Oder die eigentlich erlaubnispflichtige Vogelschreckmunition, die Wände erzittern lässt. Eine Zumutung für die Ohren anderer und brandgefährlich bis tödlich. Die Onlineshops für Feuerwerk und Pyrotechnik bewerben eifrig die „Preisknaller“ – 50 Stück Pfeifpatronen für Schreckschusswaffen für 13,98 Euro. Dabei ist das Verschießen von Pyrotechnik oder sonstiger Munition mit Schreckschuss- oder Gaswaffen streng verboten. An Silvester und sonst auch.

„Wer soll das kontrollieren?“, fragt Lothar Müller, 58 Jahre, leicht spöttisch. Der Erste Kriminalhauptkommissar und Leiter der Waffentechnik im Kompetenzzentrum Kriminaltechnik (KT) beim Landeskriminalamt weiß, wovon er spricht. Müller ist quasi der Herr der Waffen im LKA. Er und seine elf Mitarbeiter machen nichts anderes als für die Ermittler Waffen oder Munition zu untersuchen, Geschossgeschwindigkeiten herauszufinden, Einschusskanäle zu erforschen und für Gutachten zu schreiben: Was wäre wenn? Zum Beispiel das Geschoss nicht von den Kreditkarten in der Brusttasche abgefangen worden wäre, sondern die Brust durchdrungen hätte.

Mehr als eine Million Schreckschusswaffen

Immer häufiger beschäftigen sich Müller und seine Leute aber auch mit den Gefahren und Tücken der Gas- und Schreckschusswaffen. Müller nennt sie konsequent bei ihrer offiziellen Bezeichnung „Schreckschuss-, Reizstoff- und Signalwaffen“ (SRS), weil damit alles eingefangen wird, was mit den Pistolen und Revolvern verschossen werden kann. Für die Polizei stellen sie eine zunehmende Gefahr dar, denn bei den meisten Raubüberfällen haben die Täter eine solche Waffe dabei. Die sind mit bloßem Auge selbst für einen geschulten Beamten so gut wie gar nicht von einer scharfen Schusswaffe zu unterscheiden. Sie wiegen genauso viel und sehen diesen zum Verwechseln ähnlich. Bis auf den PTB-Prüfstempel auf der Schreckschusswaffe vom Physikalisch-Technischen Institut in Braunschweig, also dem Tüv für Waffen. Doch selbst dann kann eine vermeintliche PTB-Schreckschusswaffe manipuliert worden sein, und das Ding ist scharf.

15 bis 20 Millionen von ihnen sind bundesweit im Umlauf. Allein für Berlin wird die Zahl auf mehr als eine Million Schreckschusswaffen geschätzt. Genau weiß das keiner, denn sie sind frei verkäuflich für jeden ab 18 und werden nicht wie scharfe Schusswaffen registriert. Damit beginnt das Wirrwarr. Denn frei ab 18 heiße noch lange nicht, dass die auch jeder ab 18 draußen bei sich tragen darf, erklärt Müller. Das Gesetz regelt das ganz genau – aber Theorie und Praxis klaffen wie so häufig extrem auseinander. Denn wer 18 ist und eine SRS-Waffe kauft, der darf sie eigentlich erst einmal nur zu Hause liegen haben.

Wer sie außerhalb seiner vier Wände oder seines Grundstücks auch „führen“ möchte, wie es heißt, der benötigt dafür seit der Waffenrechtsreform aus dem Jahr 2003 einen kleinen Waffenschein. Den Antrag kann jeder ab 18 Jahren bei der Waffenbehörde stellen, und wenn man nicht völlig durchgeknallt ist – um einmal im Bild zu bleiben –, dann bekommt man für 50 Euro den kleinen Waffenschein. 8500 davon sind in Berlin registriert – was dokumentiert, wie sehr Theorie und Praxis auseinanderklaffen, wenn man für Berlin mehr als eine Million Schreckschusswaffen zugrunde legt.

Die meist unterschätzte Waffengattung

Doch schießen darf man damit noch lange nicht – theoretisch. Außer man ist Anschießer bei einer Regatta oder beim Marathon, sagt Waffenexperte Müller. Aber wer ist das schon? Wer schießen will, braucht nach wie vor einen richtigen Waffenschein mit Eignungstest. Mit SRS-Waffen darf nur in Notwehr- oder Nothilfesituationen gefeuert werden. Doch das wissen die wenigsten. Und wenn, „dann interessiert es unsere Klientel nicht“, sagen erfahrene Polizisten.

Aus Imponiergehabe, Größenwahn oder um Straftaten zu begehen, werden die Waffen illegal benutzt. Meist in der Annahme, dass es alles nicht so schlimm ist, weil angeblich nur heiße Luft vorne herauskommt. Die SRS-Waffen seien die „meist unterschätzten Waffengattungen“, denn sie können das Gegenüber nicht nur in Angst und Schrecken versetzen, ihm einen Hörschaden bescheren oder erblinden lassen, sondern auch töten. Den „projektillosen Todesschuss“ nennt der Waffenexperte das.

Der 58-Jährige erinnert sich dabei an einen besonders tragischen Fall vor etlichen Jahren. Damals war er für ein Gutachten angefordert. Zwei Schüler haben mit einer Schreckschusswaffe herumgealbert, halbstarkes Kräftemessen. Wer traut sich abzudrücken? Das Hin und Her ging eine Weile so, bis einer der beiden wirklich abgedrückt habe. Ein aufgesetzter Schuss am Hals des anderen. Die angeblich nur heiße Luft, die vorne aus dem Lauf kommt, wenn der Schuss ausgelöst wird, erhitzt sich kurzzeitig auf etwa 3000 Grad. Der Druck aus der Kartusche ist so groß, dass bei einem Nahschuss oder aufgesetzten Schuss die Halsschlagader zerrissen wird. Der Jugendliche lag innerhalb weniger Minuten tot in etwa drei Litern Blut. Besonders tragisch an der Geschichte sei, schildert Müller, dass der Junge die Pistole abdrückte in der Annahme, sie sei nicht geladen.

Vor Gericht wollte man ihm zunächst nicht glauben, doch mithilfe von Müllers Waffenuntersuchung für das Gutachten sei herausgekommen, dass die Pistole einen technischen Defekt hatte und nur so doch ein Schuss ausgelöst worden war. Damit lief die Sache nicht auf Vorsatz, sondern Fahrlässigkeit hinaus. „Trotzdem ist der andere Junge tot, es ist eine furchtbar tragische Geschichte“, sagt der Kommissar.

In Onlineshops gibt es Tipps statt Warnungen

Um die Gefährlichkeit der SRS-Waffen nicht nur mündlich anhand von tragischen Geschichten deutlich zu machen, hat der Waffenexperte mit seinem Mitarbeiter einen gängigen Versuch im Schießlabor aufgebaut. In dem 20 Meter langen, fensterlosen Raum steht ein Gelatineblock von der Größe eines Ziegelsteins, der nun mit einer Schreckschusspistole mit Platzpatronen beschossen werden soll. Wundballistische Untersuchung nennen die Experten das, was sie mehrmals im Jahr machen, um einen Einschuss zu rekonstruieren. Und da es keine Experimente an Leichen oder Tieren gibt, wird der Gelatineblock üblicherweise als Stoff genommen, um hier nach dem Schluss eine Wundhöhle zu simulieren. Das Ganze wird mit einer Hochgeschwindigkeitskamera videografiert: 40 000 Bilder pro Sekunde macht sie. Ein Kinofilm besteht aus 25 Bildern pro Sekunde.

Schutzbrille und Schallschutzkopfhörer auf, dann nimmt der Assistent die mit Platzpatronen geladene Schreckschusswaffe in die Hand, setzt den Lauf an den Gelatineblock und drückt ab. Krawumm! Ein leichter Rückstoß, Qualm, etwas Gelatine löst sich, binnen weniger Millisekunden und nur anschließend auf dem Video der Hochgeschwindigkeitskamera ist erkennbar, wie das Gewebe der Gelatine durch den Druck der Platzpatrone zerstört wird. Etwa vier Zentimeter tief ist die Wundhöhle anschließend im Gelatineblock erkennbar zu sehen. „Und stellen Sie sich nun vor, jemand hält das einem an die Schläfe und drückt ab“, verdeutlicht Müller das Ganze noch mal, damit auch alle verstehen, wie gefährlich die Waffen sein können.

In den Onlineshops für Pyrotechnikbedarf ist davon natürlich nichts zu lesen. Hier werden die kreischenden Werbeanzeigen noch mit Tipps versehen: „Mit einem Multishooter können Sie mehrere Feuerwerke auf einmal abschießen. Das spart Platzpatronen und sieht klasse aus.“

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