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Berlin: Der Stehauf-Patient

Immer weniger Tage müssen Kranke in der Klinik verbringen – auch nach größeren Operationen. Allerdings kommen Berliner Ärzte in einer Studie zu dem Schluss, dass Vorsicht angebracht ist

Sieben Jahre verbrachte der tuberkulosekranke Hans Castorp in einem Davoser Lungensanatorium. Was die Verweildauer in einer Klinik betrifft, so ist der Held von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ damit rekordverdächtig.

Und heute undenkbar. Denn die Patienten bleiben immer kürzer in Deutschlands Krankenhäusern. Im Jahr 1993 waren es laut Statistischem Bundesamt durchschnittlich 13,2 Tage, zehn Jahre später nur noch 8,9. In Berlin ging die Dauer der Aufenthalte im selben Zeitraum von 19,6 Tagen auf 8,7 Tage zurück. Dadurch ist die Zahl der Betten, die die Kliniken in der Stadt anbieten, deutlich geschrumpft: von 36 800 auf 20 500.

Hauptgrund für die Verkürzung der Aufenthalte ist eine Änderung im Finanzierungssystem: Was die Krankenkassen den Krankenhäusern nach einem Aufenthalt ihrer Mitglieder bezahlen, errechnet sich heute nicht mehr aufgrund der Anzahl der „Pflegetage“, die die Kranken in der Institution verbrachten. Maßgeblich ist inzwischen die Krankheit, die stationär behandelt wird. Ob es sich um einen Herzinfarkt, eine künstliche Hüfte oder eine Blinddarmoperation handelt: Die Kasse zahlt jeweils eine an der Diagnose orientierte Fallpauschale. Wer länger bleibt, wird daher für die Klinik leicht zum Kostenproblem.

Doch das Geld ist nicht die alleinige Erklärung. Die Fallpauschalen wurden erst am 1. Januar 2005 eingeführt. Die Statistik zeigt aber, dass die Tendenz zum kürzeren Krankenhausaufenthalt schon zuvor einsetzte. Die Ursachen sind auch medizinischer Art. Vor einigen Jahrzehnten gingen Ärzte davon aus, dass Patienten etwa nach einem Herzinfarkt ein paar Wochen im Bett bleiben sollten, doch dieses Denken hat sich gewandelt. Siehe „Fast track“-Operationen in der Chirurgie: Schon kurz nach dem Eingriff sollen die Patienten wieder normal essen oder schnell erste Schritte wagen. Auch nach dem Einsatz eines künstlichen Hüft- oder Kniegelenks heißt die Devise: Schnell in die Reha, zum Bewegungsprogramm.

Nicht allen Patienten gefällt diese Aussicht. „Erschütternd viele wollen länger bleiben, einigen gefällt der Rundum-Service“, erzählt ein Berliner Krankenhaus- Arzt, der ungenannt bleiben will. Doch auch Mediziner und Pflegekräfte tun sich mit der schnellen Entlassung teilweise schwer. Oft wäre ihnen wohler, wenn sie die Genesung der Patienten länger beobachten könnten. Zudem wollen sie den Fall auch aus juristischen Gründen lieber abschließen können, statt ihn an niedergelassene Kollegen abzugeben. Durch die Verzahnung der Behandlung vor, während und nach der stationären Zeit sollen die Möglichkeiten dazu weiter wachsen.

Wer die Verkürzung der Krankenhaus- Verweildauer kritisch sieht, wird sich durch eine interessante neue Studie aus der Charité bestätigt fühlen. Mediziner aus der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Campus Virchow haben herausgefunden, dass die Bedeutung des Zeitpunkts der Klinik-Entlassung bisher unterschätzt wurde. Ihre Analyse von über 900 000 Fällen aus den Jahren 1997 bis 2000 ergab, dass Patienten, die freitags aus der Klinik entlassen werden, ein höheres Risiko tragen, innerhalb eines Monats wieder zur Behandlung ins Krankenhaus zu kommen. Dagegen kam, wer am Wochenende entlassen wurde, mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht so schnell wieder. Mit Erklärungen sind die Autoren vorsichtig: Es könne daran liegen, dass freitags sehr viele Patienten entlassen würden und das daher stark geforderte Klinik-Personal nicht so genau prüfe. Womöglich machten Patienten Druck, vor dem Wochenende entlassen zu werden.

Die Statistik mag etwas verzerrt sein, weil es tendenziell eher die leichteren Fälle sind, die samstags oder sonntags eine Klinik verlassen. Dennoch stellt sich die Frage: Werden viele Patienten möglicherweise zu schnell und mit zu wenig flankierender Betreuung wieder nach Hause geschickt? Fest steht: Der medizinisch wie wirtschaftlich sinnvolle Hang zur frühen Entlassung aus dem Krankenhaus stellt höchste Anforderungen an die Verzahnung und Vernetzung von stationärer und ambulanter Medizin und Pflege. Auch die effizienteste Behandlung kann den Gesundungsprozess nicht beliebig beschleunigen. In unserer älter werdenden Single-Gesellschaft gibt es zudem immer mehr Menschen, die unter chronischen Krankheiten leiden und sich nach der Entlassung nicht selbst helfen können. Umso wichtiger sind niedergelassene Ärzte und Sozialstationen.

Bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin heißt es dazu: Frühere Entlassung bedeute, man müsse sich auch stärker Gedanken darüber machen, wer am Wochenende Hausbesuche mache und wie die ambulante Pflege organisiert werden könne. „Die nahtlose Versorgung ist ausgesprochen wichtig, doch sie muss auch im ambulanten Sektor angemessen finanziert werden“, sagt KV-Sprecherin Annette Kurth. Unter dieser Voraussetzung sieht man bei der KV die Verlagerung von stationären Leistungen in den ambulanten Bereich durchaus positiv. „Es nützt Krebspatienten, wenn sie in den Großstädten heute schon ihre Chemotherapien ambulant bekommen und wenn viele Operationen heute ohne Krankenhausaufenthalt durchgeführt werden“, sagt Sprecherin Kurth.

Ein wesentliches Argument ist dabei noch gar nicht berücksichtigt:

Die Entlassungsstatistik eines Krankenhauses gibt nicht zwingend Auskunft darüber, wie effizient dort gearbeitet wird. Einige Häuser bieten vor Ort im Anschluss an Operation und Nachbeobachtung auch gleich ein hauseigenes Programm zur Rehabilitation an.

Im Hermsdorfer Dominikus-Krankenhaus etwa, das über eine eigene geriatrische Abteilung verfügt, können ältere Patienten, die ein neues Knie- oder Hüftgelenk bekommen haben, dort auch gleich ihre Reha absolvieren. Das verlängert ihren Aufenthalt im Krankenhaus. „Unser Motto heißt nicht: Die Patienten sollten die Klinik möglichst schnell verlassen!“, sagt Geschäftsführerin Ursula Maigatter. Die strategische Aufgabe bestehe vielmehr darin, den kranken Menschen, vor allem den älteren, mehrfach kranken, in seiner Gesamtheit zu betrachten – und das trotz des neuen Abrechnungssystems, das sich auf eine „Hauptdiagnose“ stützt. Allerdings habe sich auch in der Geriatrie die durchschnittliche Verweildauer in den letzten Jahren deutlich verkürzt, von 28 auf inzwischen nur noch 20 durchschnittliche Krankenhaustage. „Auch in diesem Bereich sind die Methoden inzwischen deutlich effizienter geworden“, sagt Maigatter.

Während eines Klinikaufenthalts Manns „Zauberberg“ auszulesen, das werden heute nur Schnellleser schaffen.

Adelheid Müller-Lissner

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