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Zeitungsgeschichte. Wie auf dem Bild von 2005 prangt der Tagesspiegel-Schriftzug nicht mehr über dem alten Verlagsgebäude in Mitte. Heute wirbt

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Der Tagesspiegel und der DDR-Geheimdienst: Zeitung im Visier der Stasi

„Kriegstreiber“, „Feindzentrale“ – das Ministerium für Staatssicherheit blickte voll Argwohn auf die Tageszeitung im Westen und vermutete hinter manch kleinem Redakteur die ganz große Verschwörung. Unser Autor hat die Ausspähung erstmals historisch untersucht.

Der Geburtstag des Tagesspiegels war der 27. September 1945. Ein Donnerstag in der Trümmerstadt Berlin. Für die Berlin-Nachrichten im neuen Blatt zeichnete damals Susanne Drechsler verantwortlich. Die 43-Jährige mit dunklen, kurzen Haaren, Holocaust-Überlebende und kommunistische Stadtteilverantwortliche in Nikolassee, war zugleich der erste Spitzel in der Redaktion am Tempelhofer Damm. Aber ein ungewöhnlicher Spitzel. Denn ihre Geheimberichte passten so gar nicht zur Ost-Propaganda der Zeit, die den Tagesspiegel bald nach seinem ersten Erscheinen als „amerikanisches Hetzblatt“ auserkoren hatte. „Richtlinien jeder Arbeit in der Redaktion“, konstatierte Drechsler in einem abschließenden Bericht, „waren Parteilosigkeit und alle politischen Richtungen zu Wort kommen zu lassen.“

Susanne Drechslers Lebensweg ist eine dieser unglaublichen Biografien des 20. Gewaltjahrhunderts. Als Jugendliche aus reichem Haus brach sie früh mit ihrer jüdischen Breslauer Familie. Fasziniert von der Idee, dass das Proletariat Revolution machen würde, diente sie sich als Gärtnerin bei dem in Berlin lebenden Künstler John Heartfield an. Von da ging sie nach Worpswede und lebte dort in ihrem Traum aus Kunst und Politik. Sie zeichnete Bilder für das renommierte „Berliner Tageblatt“. Schon da spitzelte sie im KPD-Auftrag in dessen Redaktion. 1934 wurde sie verhaftet. Ihre Eltern ermordeten die Nazis in Theresienstadt. Sie selbst entkam Auschwitz nur im Chaos eines Fliegerangriffs. Sie floh nach Berlin und überlebte dort im Untergrund. Nach Kriegsende boten ihr die neuen Tagesspiegel-Lizenzträger den Aufbau und die Leitung der Lokalredaktion an. Sie nahm an. „Nach Rücksprache mit Wilhelm Pieck beim Tagesspiegel angefangen“, notierte sie. Ein halbes Jahr fuhr Susanne Drechsler nun tagsüber ins beschädigte Ullstein-Druckhaus nach Tempelhof und schleppte Brennholz aus den Trümmern in die zugigen Redaktionsräume im dritten Stock. Abends notierte sie ihre Eindrücke: In der Zeitung gehe es vor allem um die „Erziehung der Deutschen zur Demokratie. Im Besonderen wird auf einwandfreies Deutsch Wert gelegt. Alle Ausdrücke, die an die Phrasen der vergangenen zwölf Jahre erinnern, wurden verboten.“

Nach einem halben Jahr schon war Schluss mit Drechslers Doppelleben. „März 1946 warf mich Herr Reger (im Auftrag der Amerikaner) heraus mit der Bemerkung: ‚Ihnen steht die Parteidisziplin höher als das Redaktionsgeheimnis.‘“ Der Journalist und Schriftsteller Erik Reger war in der Anfangszeit als Lizenzträger, Mitherausgeber und Chefredakteur der unumstrittene geistige Kopf der Zeitung. Über ihn notierte sie: „Hält sich für einen Sozialisten.“ In der „Vossischen Zeitung“ hatte Reger schon 1931 Hitler einen „Rattenfänger“ genannt. Noch immer hielt er die Mehrheit der Deutschen für Nationalsozialisten. Als die Rote Armee in Berlin einzog, begrüßte er das. Doch so sehr Reger auch ein entschiedener Antifaschist war, so klar war er, wenn es um den Kommunismus im Osten ging. Unter Regers Federführung entwickelte sich der Tagesspiegel nach anfänglicher Zurückhaltung zum publizistischen Hauptankläger der Verhältnisse in der Sowjetischen Besatzungszone.

Die Ostpresse beschimpfte den scharfzüngigen Tagesspiegel-Chef als „Kriegstreiber Nr. 1“, Vertreter eines „Blattes der Schwerindustrie“. Dabei war Reger sowohl Antimilitarist wie auch Preußenfeind, der für den Demokratieaufbau die rigorose Zerschlagung aller Stahlkartelle forderte. Aber er war eben auch überaus klar, wenn es darum ging, den politischen Kulissenumbau im Osten zu attackieren. Kein Wunder also, dass „Neues Deutschland“, „Berliner Zeitung“ und „Neue Zeit“ 1948 Reger und seine Zeitung mit 471 Artikeln ins Kreuzfeuer nahmen.

Scharfer Antikommunist. Erik Reger, in den Anfangsjahren oberster Mann beim Tagesspiegel, war den Kommunisten steter Stachel im Fleisch.
Scharfer Antikommunist. Erik Reger, in den Anfangsjahren oberster Mann beim Tagesspiegel, war den Kommunisten steter Stachel im Fleisch.

© Hellmuth Pollaczek

Doch es blieb nicht beim publizistischen Schlagabtausch. Am 6. September 1948 verschleppten SED-Leute den 21-jährigen Tagesspiegel-Parlamentsberichterstatter Wolfgang Hansske nach der letzten Groß-Berliner Stadtverordnetenversammlung im Neuen Stadthaus in der Parochialstraße in Mitte. Der Vorwurf: Spionage, antisowjetische Propaganda, Gründung einer antisowjetischen Vereinigung. Das Urteil der Sowjets: Drei mal 25 Jahre Arbeitslager. Hansske verschwand spurlos, und der Fall wurde zum Stadt-Politikum. „Wolfgang Hansske ist ein Name von vielen“, titelte der Tagesspiegel, „die eine furchtbare Anklage gegen die unmenschlichen Methoden der Sowjetischen Militäradministration und ihrer Vasallen darstellen.“ Für Reger war die junge DDR fortan ein „sowjetisches Sklavengebiet“ mit „roten Mördern“. „Dibrowa heißt die Kanaille“, schrieb er in einem Leitartikel nach dem 17. Juni 1953, als der sowjetische Stadtkommandant die Erschießung eines West-Berliners befahl. „Man merke sich den Namen für eine spätere Auslieferungsliste.“

Als Erik Reger im Folgejahr tot in einem Wiener Hotelzimmer aufgefunden wurde, gingen viele von einem Stasi-Mord aus. Erst Tage zuvor hatten ihn Mitarbeiter der West-Berliner Organisation „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ gewarnt: Es existiere ein Geheimdienstplan, nachdem gegen führende Antikommunisten gewaltsam vorgegangen werden sollte. Bei der Obduktion Regers wurde dann lediglich Herzversagen festgestellt. Tatsächlich das Resultat jahrelanger Überarbeitung? Wirklich geklärt wurde sein früher Tod nie. Kurze Zeit später kehrte Wolfgang Hansske nach sieben Jahren Gulag als gebrochener Mann in die Redaktion zurück. Als reiner Produktionsredakteur lief er still durch die Redaktionsräume – und war dabei vielen Mitarbeitern der „Feindzentrale Tagesspiegel“, wie die Zeitung auch im Stasi-Sprech hieß, eine Mahnung.

Als dann 1958 der Tagesspiegel-Redakteur Friedrich Apitzsch, den die Stasi fälschlicherweise als Friedrich Apitzschen führte, die Geschichte eines Grubenunglücks nahe Leipzig druckte, die ihm der Flüchtling Wolfgang Weise erzählt hatte, antwortete das „Neue Deutschland“ umgehend: „Wieder Lüge des Tagesspiegels geplatzt.“ Doch aus dem üblichen Schlagabtausch wurde in diesem Fall mehr. Wolfgang Weise wurde kurze Zeit später vom Berliner Verfassungsschutz verhaftet. Man vermutete in ihm einen Stasi-Spion. Als er nach drei Monaten freikam und frustriert in die DDR zurücksiedelte, mutmaßte man auch dort Spionage, diesmal für die Amerikaner. Stasi-intern ließ man die Sache zu einem großen Fall aufkochen. Weise wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. In der großen Agentengeschichte kam dem „amerikanischen“ Tagesspiegel eine vermeintlich maßgebliche Rolle zu. Doch keine der zuständigen MfS-Abteilungen konnte auf die hektischen Nachfragen zur Tagesspiegel-Redaktion und zu Friedrich Apitzsch etwas liefern. Man hatte also offenbar keinen Spitzel vor Ort. Dabei war Apitzsch ein Redaktionsurgestein, Chef vom Dienst fast seit den Zeitungsanfängen. Jeder im Redaktionsumfeld hätte über ihn Auskunft geben können. Informationen erhielt die Stasi aber erst, als die Abteilung VIII, zuständig für Observation, einen Hausnachbarn anzapfte.

Woher kommen die blinden Flecken?

Zeitungsgeschichte. Wie auf dem Bild von 2005 prangt der Tagesspiegel-Schriftzug nicht mehr über dem alten Verlagsgebäude in Mitte. Heute wirbt
Zeitungsgeschichte. Wie auf dem Bild von 2005 prangt der Tagesspiegel-Schriftzug nicht mehr über dem alten Verlagsgebäude in Mitte. Heute wirbt

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Der Informationsfluss aus der Redaktion blieb auch danach dünn, selbst als 1974 innerhalb der Spionageabwehr der DDR die Hauptabteilung HA II/13 gegründet wurde, die zuständig für West-Korrespondenten sein sollte und dabei auch in „feindliche Redaktionen mit Hilfe von Inoffiziellen Mitarbeitern“ einzudringen hatte. Sie war zum Schluss mit 65 Mitarbeitern besetzt. In den Unmengen Dossiers zu Journalisten, Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen aus dieser Abteilung sammelten sich dennoch weiterhin nur Fragmente zum Tagesspiegel. Einen Blatt-Experten im Lichtenberger Stasi-Hauptsitz oder an der Prenzlauer Allee bei der Berliner Bezirksverwaltung gab es schlichtweg nicht.

Doch wie lässt sich solch ein blinder Fleck erklären? Richtig ist, dass die Personaldecke der Staatssicherheit in den fünfziger Jahren noch dünn war und schon die Bearbeitung der „Feindobjekte“ in den Bereichen Militär, Alliierte, Polizei und Politik manchen Stasi-Mann vor Erschöpfung krank werden ließ. Selbst zu Erik Reger scheint man keine Akte angelegt zu haben. Erst Ende der 1950er Jahre gelang die Platzierung von Spitzeln in Redaktionen. Zu der Zeit aber änderte Springer schon den Berliner Zeitungsmarkt durch den Aufkauf des Ullstein-Verlages und dessen auflagenstarken Traditionsblättern „Berliner Morgenpost“ und „B.Z.“. Regers Nachfolger als Herausgeber, Franz Karl Maier, und der von ihm geholte Chefredakteur Karl Silex waren sich denn auch angesichts dieser Konkurrenz einig, den Tagesspiegel für die West-Berliner Bürgerlichen zunehmend liberaler, sachlicher und ohne forcierten Antikommunismus anzubieten.

Silex, bis 1943 Hauptschriftleiter der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“, aber durch seine Londoner Korrespondenzjahre stark angelsächsisch geprägt, schrieb nüchterner als Reger. Er vermied scharfe Konfrontationen. Auf eine Sonderausgabe zum Mauerbau verzichtete er, zum Ärger mancher Leser. Seine Leitartikel nahmen vieles vorweg, was die Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt ausmachte.

Das ergab einen neuen Ton, den auch die Stasi bemerkte, in deren Operativ-Weltbild Westjournalisten eigentlich immer getarnte Spione waren und „die gegnerischen Medien“ ohne Ausnahme im Dienst des Monopolkapitals standen. So notierten die Stasi-Offiziere noch 1956 in der Feindobjektkartei F17: „Hinter dieser westlich-lizensierten Zeitung verbirgt sich eine Agentenzentrale.“ Und an anderer Stelle: „Verleumdungen und Hetzreden sind beim Tagesspiegel nicht geringer als anderswo. Sie sind nur eleganter verpackt.“ Aber während die DDR-Propaganda weiter vom Tagesspiegel als „zügellosem Hetzorgan der Frontstadtpolitiker“ sprach, kam es intern zu einer schrittweisen Neubewertung des Blattes. 1987 hieß es schließlich unumwunden: „Der Tagesspiegel vertritt prowestliche Positionen, unterscheidet sich aber wesentlich vom militanten Antikommunismus der Springerpresse. Er ist um Sachlichkeit und Objektivität bemüht und hat einen hohen Informationswert.“ Das war nicht die Einschätzung einer drittrangigen Stasi-Kreisdienststelle, sondern kam aus dem Kern des Apparats. Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) versorgte alle leitenden Stasi-Offiziere und Staatsfunktionäre mit Einschätzungen.

In dieses Bild passt auch, dass der Tagesspiegel schon 1978 nicht mehr als „Feindorganisation im Westen“ taxiert wurde. In einer Auflistung der ZAIG, die sage und schreibe 188 Seiten umfasst, kommt er nicht vor, fehlte danach auch in allen anderen einschlägigen Zusammenstellungen des Geheimdienstes, so auch 1985 bei der Auflistung von 319 „feindlichen Stellen“ die „subversiv gegen die DDR tätig“ waren. Darunter die „linksextremistische/pseudorevolutionäre TAZ“.

In West-Berlin interessierte die Stasi schlicht alles

Daraus aber zu schließen, dass der DDR-Geheimdienst in den Anfängen des Kalten Krieges nicht in der Lage war auszuspionieren, was ihn ab Ende der 1950er Jahre nicht mehr interessierte, wäre fahrlässig. West-Berlin war die Heimspielarena der „Schild-und-Schwert“-Mannen der SED. Hier interessierte alles, schon damals etwa die „Moslem-Brüder, Westberlin, zuständig: HA XXII/4“. Schätzungsweise 750 Agentinnen und Agenten arbeiteten zuletzt für alle MfS-Abteilungen in West-Berlin. In der Druckerei für den Tagesspiegel und den „Abend“, der Mercator-Druckerei, war die Stasi denn auch dank mancher westdeutscher Teilzeit-Linker präsent und erfolgreich.

Beim Tagesspiegel selbst gab es keinen persönlichen Dringlichkeitsauftrag des Stasi-Chefs Erich Mielke zum Sammeln allen Materials wie im Fall des Springer-Konzerns. Auch keine systematische Recherche zur NS-Vergangenheit aller wichtigen Redakteure, die dann in Broschüren wie „Springer und die Hetzpropaganda seiner Westberliner Organe“ oder in dem Fernsehmehrteiler „Ich – Axel Cäsar Springer“ zur besten Sendezeit und in gewohnt rüder Weise aufbereitet wurden.

Dennoch: Bei den Stasi-internen Materialsammlungen wurden Tagesspiegel-Artikel massenhaft kompiliert und auch verarbeitet. Erich Honecker bekam in seiner täglichen Pressemappe durchweg Artikel des Blattes vorgelegt. Und immer wieder hatten sie Sprengkraft genug, polit- und behördeninterne Erdbeben auszulösen. So am 6. Dezember 1972, als unter der Überschrift „Bohrende Fragen nach Westkontakten. Drei amtliche Formulare aus der DDR im Wortlaut“ Dokumente auf einer ganzen Seite abgedruckt wurden. Danach mussten alle 15 Stasi-Bezirksverwaltungen den Osten nach der Herkunft der Formulare durchkämmen. Ohne Erfolg. Vom VEB Thüringer Obertrikotagenkombinat Apolda bis zum VVB Eisen-Bleche-Metalle Karl-Marx-Stadt – nirgendwo wurde man fündig. Der 20-seitige Abschlussbericht stellte trotzdem fest, dass hier „nur der BND tätig“ gewesen sein konnte und zwar im Landwirtschafts- und Außenwirtschaftsministerium sowie im VVB Tierzucht Potsdam, dem „Turmstübchen“-Restaurant in Eisenach und flächendeckend in den Städten Leipzig, Dresden und Schwerin.

Für die letzte Großaufregung sorgte der Artikel der Diplomvolkswirtin Ute Reinhart „Wirtschaft auf Talfahrt“ im Sommer 1989. Auf einer Tagesspiegel-Seite verglich sie die Ideen der Planwirtschaft mit den DDR-Realitäten. Anhand von konkreten Zahlen ging es um verfehlte Preispolitik, den Schwarzhandel, die Versorgungskrise, den Rückstand in der Mikroelektronik und auch um einen der letzten ideologischen Ankerplätze der DDR-Fürsprecher: das Bildungswesen. Es sei veraltet, schrieb sie. „Heute übertrifft sogar die Mongolische Volksrepublik die DDR in Bezug auf die Studentenzahl pro 10 000 Einwohner.“ Honecker tobte. Aber die Stasi wusste auch diesmal keine Hintergründe und hatte nichts über die Autorin parat. Folglich konnte es sich bei Ute Reinhart nur um ein Pseudonym handeln und selbstredend um einen Komplott. Das „Neue Deutschland“ antwortete mit einem Gegenartikel und unterstellte dem Tagesspiegel Westneid auf die Errungenschaften des Sozialismus zwischen Kap Arkona und Fichtelberg.

Interessanter Mann. Joachim Bölke unterhielt als "Außenminister" des Tagesspiegels glänzende Kontakte zu den West-Alliierten in der Stadt.
Interessanter Mann. Joachim Bölke unterhielt als "Außenminister" des Tagesspiegels glänzende Kontakte zu den West-Alliierten in der Stadt.

© Simone Dieste

Wenn nicht die Zeitung als Ganze, so hatte die Stasi doch immer wieder einzelne Tagesspiegel-Redakteure im Visier. Vor allem Joachim Bölke, der als junger Russischlehrer aus der SBZ geflohen war, wo man ihn als Geheimdienstzuträger rekrutieren wollte. Bölke war schon Redakteur beim Tagesspiegel, als die DDR gegründet wurde. Und er war es noch, als sie unterging. Zusammen mit Karl-Heinz Brinkmann bestimmte er das außenpolitische Gesicht der Zeitung. Grund genug, zu beiden Journalisten Stasi-Akten anzulegen und operativ aktiv zu werden. So bekam Brinkmanns Bruder in Ost-Berlin Besuch von zwei Herren des Innenministeriums, die wie zufällig einen Tagesspiegel bei sich hatten und mit ihm über den „Frieden“ reden wollten. Bei einem Empfang der Alliierten bemerkte Brinkmann, dass der Zweite Sekretär der Russischen Botschaft den Kontakt zu ihm suchte und etliche Details über ihn wusste. Angesichts solcher frontalen Rekrutierungsversuche ging die Redaktion in die Offensive. Als bei einem Erfurter Verwandtenbesuch des Redakteurs Klaus Kurpjuweit im Jahr 1983 plötzlich jemand mit ihm über den Tagesspiegel sprechen wollte, machte man kurzerhand den Stasi-Vorstoß im Blatt öffentlich.

Bölke und Brinkmann gehörten in den 1960er und 70er Jahren zu einer langjährigen Redaktionsmannschaft, die sich West-Berlin nicht ohne DDR denken konnte. Manch einer agierte gegenüber dem Land im Osten trotzdem erstaunlich unbekümmert. So der Feuilletonchef Hans Scholz, der wie ein politisch argloser Parzival bei seinen Mark-Brandenburger Wochenendausflügen auf den Spuren Theodor Fontanes für helle DDR-Aufregung links und rechts seines Weges sorgte. Als er angesichts eines geheimen sowjetischen Flugplatzes gegenüber einem auf ihn angesetzten Förster über dessen Funktion ins Rätseln kam, waren sich seine Verfolger sicher: Diese Art Ahnungslosigkeit konnte nur gespielt sein. Drei Jahre lang wurde der redselige Scholz beschattet, wurden Artikel und Bücher analysiert, Routen nachvollzogen und immense Aktenberge angehäuft. Am Ende musste die Stasi konstatieren: „Es geht tatsächlich um die Beschreibung der landschaftlich ‚schönen deutschen Heimat‘, die nun mal in dem ‚anderen deutschen Staat‘ liegt.“

Ähnlich erging es Hans-Georg von Przychowski, dem Nachfolger Friedrich Apitzschens als Chef vom Dienst, nachdem die DDR-Postkontrolle einen Brief an ihn abgefangen hatte. Darin wurde anonym berichtet, dass die Iran Air Force rund 20 Mal in der DDR gekaufte Waffen in den Gottesstaat ausgeflogen hatte. Eine Information mit gehöriger Brisanz, lieferte man doch auch Waffen an den Kriegsgegner Khomeinis, den sozialistischen Irak. In schier endlosen Ermittlungen stieß die Stasi schließlich auf den Leiter des Luftfahrtclubs „Otto Lilienthal“ am Flughafen Schönefeld als Verfasser. Von Przychowski war in Ost- wie West-Berlin für seine Flugbegeisterung bekannt. Mit dem Brief wollte sich der Luftfahrtclub-Präsident für das Kontaktverbot der Stasi zur westdeutschen Flug-Spotter-Szene rächen. Er wurde zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.

Von Przychowski, der für die Flugseite im Tagesspiegel zuständig war, geriet durch diesen Fall ins Fadenkreuz der Stasi. „Er tritt fortgesetzt in westlichen Medien mit Veröffentlichungen über spezifische Probleme der zivilen Luftfahrt der DDR in Erscheinung, die den politischen und ökonomischen Interessen der DDR widersprechen. Ein Auftrag einer imperialistischen oder anderer feindlicher Stellen ist nicht auszuschließen.“ Der Geheimdienst eröffnete schließlich die Operative Personenkontrolle OPK „Journal“: Alle Kontakte von Przychowskis sollten überprüft und beobachtet werden, alle seine Ein- und Ausreisen kontrolliert, sein Telefon abgehört, seine Post überprüft und geeignete IMs auf ihn angesetzt werden. Kurzum: das volle Programm. Von Przychowski hatte Glück: Nur wenig später fiel die Mauer. Als er seine Akten einsah, registrierte er überaus verwundert, was seine Begeisterung für den Himmel am Boden in Bewegung gebracht hatte. Auffallend an beiden Großvorgängen ist, dass sich den beteiligten Stasi-Offizieren nach Aktenlage erstaunlich lange nicht erschloss, dass Scholz und von Przychowski Tagesspiegel-Redakteure waren. Dabei hätte man bei von Przychowski nur ins Zeitungsimpressum zu schauen brauchen.

Endlich eine Top-Quelle!

Zeitungsgeschichte. Wie auf dem Bild von 2005 prangt der Tagesspiegel-Schriftzug nicht mehr über dem alten Verlagsgebäude in Mitte. Heute wirbt
Zeitungsgeschichte. Wie auf dem Bild von 2005 prangt der Tagesspiegel-Schriftzug nicht mehr über dem alten Verlagsgebäude in Mitte. Heute wirbt

© picture-alliance/ dpa/dpaweb

Ähnlich war es auch bei Michael Mara, mit dem der Tagesspiegel ohne Frage seine beste DDR-Aufklärungszeit hatte. Mara, der als DDR-Grenzsoldat am ersten Weihnachtstag 1961 in Uniform und mit Waffe geflohen war, arbeitete im IWE, dem Informationsbüro West, das unterstützt vom gesamtdeutschen Ministerium die DDR-Presse auswertete. 1969 übernahm er dort die Leitung und avancierte damit zu einem Stasi-Hauptfeind. In den Operativen Vorgängen „Redakteur“ und „Sumpf“ wurden bis zu sechs Inoffizielle Mitarbeiter gleichzeitig auf ihn angesetzt. Immer wieder sah die Stasi seine Entführung vor. Im Januar 1982 wurde Mara fester Mitarbeiter beim Tagesspiegel. Angesichts der von ihm veröffentlichten DDR-Interna fahndeten Stasi-Abteilungen emsig nach den Orten des Geheimnisverrats im Osten selbst. Doch stets musste man konstatieren, dass Mara mit einem ausgezeichneten Kontaktnetz in Ostdeutschland auf Informationen aus DDR-Publikationen zurückgriff, die teils nicht öffentlichen Behördenblättern entstammten, aber letztlich nicht geheim waren. Allein 1982 lösten seine Artikel sechs Groß-Nachforschungen aus. Doch trotz großen Aufwands erhielten die Stasi-Leute nie Klarheit über Maras Anstellungsverhältnis im Blatt. Für sie blieb er ein Mann des Informationsbüros. Der Tagesspiegel agierte mal wieder unter dem Stasi-Radar.

Dabei hätte man es durchaus besser wissen können, hatte man doch, wie zu Anfang der DDR, auch am Ende eine Top-Quelle in der Redaktion. In einem Dokument listete die Abteilung XV der Berliner Bezirksverwaltung der Stasi 1988 die Decknamen ihrer 63 Einsatzagenten in West-Berlin auf. Darunter auch „IM Laubach, Journalist, CDU-Mitglied“. IM „Laubach“, 1946 geboren, war zuerst Volontär und Sportreporter beim „Telegraf“, dann sechs Jahre bei Schering in der Öffentlichkeitsarbeit und ab 1977 Wirtschaftsredakteur beim Tagesspiegel. Von 1981 bis 1988 stammen von IM Laubach weit über 1000 Seiten Berichte, Unterlagen und Manuskripte zu West-Forschung, Ost-Krediten, Energiefragen und Biotechnologie, zum Automobilbau, zum Nato-Doppelbeschluss und immer wieder auch zu Berlin: zur Senatspolitik, Stromversorgung, zu USA-Initiativen, China-Kontakten, Hochtechnologieforschung, der 750-Jahr-Feier, Berichte mit Äußerungen von RIAS-Programmdirektoren, Politikern, Bankleuten und vielen mehr. Für die Stasi ein „Spitzenvorgang im Operationsgebiet“. Viele seiner Informationen bewerteten die Stasi-Offiziere mit Bestnoten. Und manche operative Zuarbeit für die SED-Funktionäre stützte sich fast ausschließlich auf „IM Laubach“. Seine Informationen waren Entscheidungsgrundlage für die Politbüro-Gerontokraten.

Für das MfS ein Rätsel. Michael Mara floh 1961 aus der DDR als Grenzsoldat. Für das Informationsbüro West und später für den Tagesspiegel recherchierte er Geschichten aus dem sozialistischen Staat - und stellte dessen Geheimdienstler vor Rätsel.
Für das MfS ein Rätsel. Michael Mara floh 1961 aus der DDR als Grenzsoldat. Für das Informationsbüro West und später für den Tagesspiegel recherchierte er Geschichten aus dem sozialistischen Staat - und stellte dessen Geheimdienstler vor Rätsel.

© dpa

IM „Laubach“ war zunächst aufgefallen, als er bei einem Tschechien-Besuch Elogen auf die DDR zum Besten gegeben hatte. Der vier Jahre jüngere Führungsoffizier Klaus Groth warb ihn auf „ideologischer und materieller Basis“, es floss also auch Geld. IM „Laubach“, Spross einer portugiesischen Familie, die vor der Salazar-Diktatur von Portugal nach Berlin geflohen war, galt bei seiner Werbung als linker SPD-Mann, mutierte dann aber, offenbar, als die Stasi vornehmlich an CDU-Informationen interessiert war, zum christdemokratischen Parteimitglied. Von da an flossen über ihn reichlich CDU-Interna in den Osten: Personalien, Wahlen, Diskussionen, Äußerungen im Parteikreis.

So viel auch immer IM „Laubach“ zu Wirtschaft und Politik lieferte, so wenig ist in seiner Aktenhinterlassenschaft vom Tagesspiegel die Rede. Nur drei seiner Redaktionsberichte qualifizierte die Stasi in all den Jahren als Top-Infos: 1. eine vertrauliche Äußerung Joachim Bölkes, damals Mitglied der Redaktionsleitung und von der Stasi irrtümlich "Chefredakteur" genannt, über den Leiter der amerikanischen Abteilung Zentraleuropa, 2. Informationen zu einem auf Initiative der Amerikaner geplanten Interview des Tagesspiegels mit Erich Honecker und 3. Joachim Bölkes Äußerungen zum Stand der Beziehungen West-Berlin – DDR. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass von IM „Laubach“ mehr Redaktionsinterna stammen. Aber die Informationen blieben vermutlich, nach dem „Stasi-Prinzip der inneren Konspiration“ zum Schutz der „Spitzenquelle“ vor einer Aufdeckung durch westliche Dienste, in der Abteilung XV, dem Berliner Ableger des Auslandsnachrichtendienstes HVA, die „Laubach“ führte, und sind heute verschwunden.

Wer ist IM "Laubach"?

Aber wer verbirgt sich nun hinter IM „Laubach“? Gemäß der Stasi-Kartei F16 soll es Manuel Fernandes-Stacke sein. Ein Manuel Fernandes-Stacke arbeitete tatsächlich auch als Wirtschaftsredakteur im Tagesspiegel. Geburtsdatum, biografische Daten, Adressen, die Angaben zu Angehörigen – alles stimmt. Konfrontiert mit den Archivfunden, stellt er selbst allerdings fest, er sei unwissend abgeschöpft worden. Der ehemalige Berliner SPD-Pressesprecher Heinrich Burger sei es gewesen, der ihn als Quelle ins Spiel gebracht hätte. Das ist allerdings schwer zu glauben. Denn Burger wurde bereits 1977 in einem Aufsehen erregenden Prozess wegen seiner MfS-Tätigkeit zu sieben Jahren Haft verurteilt. Der Stasi-Vorgang Fernandes-Stacke beginnt aber erst 1981. Heinrich Burger, der mit seiner Stasi-Vergangenheit heute glaubwürdig und offen umgeht, sagt dazu, dass er Fernandes-Stacke gar nicht kenne und dessen Erzählung für „unglaubwürdig“ halte. Es wäre nicht im Interesse der Stasi gewesen, seine Rolle durch die Anwerbung anderer Quellen zu gefährden.

Fernandes-Stacke sagt auch, er sei vom Redakteur des Ost-Berliner Jugendradios DT64 Klaus Fest abgeschöpft worden. Dieser Klaus Fest, zu dem es in den Stasi-Unterlagen eine Akte als IM „Bernd Krüger“ gibt, wurde auch von Stasi-Offizier Klaus Groth geführt. Und tatsächlich finden sich in der Akte „Krüger“ sechs Berichte, die mit „Laubach“ gezeichnet sind, aber schon Wochen später wurde aus der Abschöpfaktion heraus die IM-Akte „Laubach“ angelegt.

Seitdem gibt es mehr als 200 Berichte, die einzig auf „Laubach“ zurückgehen. IM Laubach wurde also wohl anfangs kurzzeitig abgeschöpft, um dann selbst in den Geheimdienstring zu steigen. Auf Nachfrage erklärt Klaus Fest, dass er Fernandes-Stacke kenne, aber nie abgeschöpft habe.

1987 trennte sich der Tagesspiegel von Manuel Fernandes-Stacke, nachdem er für den CDU-Wirtschaftssenator Elmar Pieroth heimlich Reden geschrieben hatte, die er dann im Tagesspiegel kommentierte. Seitdem arbeitete er für verschiedene Fachzeitschriften und auch für die Deutsche Presse-Agentur. 1994 ermittelte die Bundesanwaltschaft gegen ihn wegen Geheimnisverrats. Das Verfahren wurde, wie 90 Prozent aller Stasi-Ermittlungsverfahren, eingestellt. Er habe, so Fernandes-Stacke, seine Abschöpfung dem Berliner Staatsschutz ja schon damals mitgeteilt. Manfred Kittlaus, der frühere Leiter, hätte dies den Ermittlern bestätigt. Kittlaus ist tot, die Ermittlungsakten sind vernichtet. Aber neu aufgefundene Stasi-Akten sprechen eine deutlich andere Sprache: IM „Laubach“ erscheint hier als „A-Quelle“, also als aktiver Zuträger. Auch in der Decknamenliste der Abteilung XV von 1988 taucht er als Quelle, nicht als Kontaktperson auf. Und im Arbeitsplan für 1989 hält die Abteilung sogar fest: „Quelle ‚Laubach‘, Journalist, CDU: Einschleusung als verantwortlicher Redakteur für Wirtschaft und Kirchenpolitik in die CDU-Zeitung Berliner Rundschau, in die Berliner Pressekonferenz und den Wirtschaftsrat der CDU zum gezielten Aufbau von Abschöpf- und Förderkontakten in Führungsbereich des Senats.“ Gezeichnet ist der Vermerk vom Leiter der Bezirksverwaltung und dem Stellvertreter Aufklärung.

Die Zeiten ändern sich, auch im Spionagegewerbe. Susanne Drechsler bekam für ihre Berichte keinen Lohn und verfasste diese in der Hoffnung auf ein vermeintlich besseres Deutschland. Nach ihrem Tagesspiegel-Rauswurf machte sie steile Karriere im Rundfunk der DDR. Sie stand zu ihrer Agentenzeit.
Der Historiker und Autor Andreas Petersen ist Leiter der Geschichtsagentur zeit&zeugen und gab zuletzt das Erik-Reger-Tagebuch „Zeit des Überlebens“ heraus. Er hat im Auftrag der Redaktion das Thema „Tagesspiegel – DDR-Staatssicherheit“ in einem zweijährigen Forschungsprojekt untersucht. Sein Text erschien zunächst gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin. Mitarbeit: Gerd Nowakowski

Andreas Petersen

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