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Berlin: Der Traum vom goldenen Teelöffel

Zeitreise durch Berlin (5): Der Sieg über Frankreich und die Gründung des Kaiserreichs 1871 lösten in Berlin einen beispiellosen Aufschwung aus. Die Geldquelle der Reparationen schien endlos zu sprudeln, jeder wollte mitspekulieren und kaufte Aktien. Der Zusammenbruch ließ nicht lange auf sich warten

Hermann kann es noch immer nicht fassen: Sein Traum ist zerstört. Dabei wollte er doch seiner Friederike nur eine sichere Zukunft bieten. Das Kind, mit dem sie schwanger geht, sollte versorgt sein. Nun ist alles verloren. Verzweifelt zerknüllt er die Aktie des „Deutschen Central-Bau-Vereins“, die er erst vor einem Jahr mit so viel Hoffnung erworben hat. „Unity is strength“, steht auf dem Papier. „Einigkeit macht stark“. Hermann empfindet das nur als blanken Hohn. Mit trübem Blick starrt er auf die Schlagzeile der Zeitung: Bankier Heinrich Quinstorp, der Gründer, den alle bewunderten, ist pleite – und mit ihm die zahlreichen Aktiengesellschaften, die er gegründet hat, so auch der Bauverein. Was jetzt, an diesem 15. Oktober 1873, mit einem Börsenkrach beginnt, ist nicht abzusehen. Aber Hermann spürt, dass eine schwere Zeit kommen wird. Der kleine Beamte der Berliner Stadtverwaltung hat sein ganzes Erspartes im Börsenkrach verbrannt.

Ein kleines Stück vom Kuchen, das war sein Ziel. Alle seine Freunde hatten ihm zugeraten. „Kauf Aktien, die bringen leichtes Geld“, flüsterten sie ihm immer wieder zu. Nur Friederike blieb vorsichtig. In ihrer kleinen Küche mit Blick in den engen, dunklen Innenhof hatten sie oft zusammengesessen. Friederike war fast ängstlich. „Was ist, wenn wir alles verlieren?“ Doch das glaubte in Berlin der Gründerjahre niemand. Verlieren? Pah! Gewinnen wollte man, viel gewinnen. Die 1,3 Milliarden Thaler aus dem besiegten Frankreich flossen ab 1871 reichlich, diese Thaler wollten angelegt sein. Herrmann las seiner Frau die Prospekte der neuen Aktiengesellschaften vor, in denen märchenhafte Renditen versprochen wurden. Zum Beispiel die Chemische Fabrik Oranienburg: „Bei diesen äußerst günstigen Verhältnissen können wir wohl mit Sicherheit auf eine gleiche, wo nicht höhere Dividende rechnen wie die anderen großen chemischen Fabriken als Buckau 14 Prozent, Silesia 18 Prozent, Aussig 23 Prozent, Rhenania 24 Prozent, Pommerensdorf 28 Prozent.“ Hermann rechnete seiner Frau vor: 300 Thaler hatten sie in den letzten zehn Jahren gespart, noch einmal 300 von seinem Vater ererbt. 28 Prozent Rendite, das wären jährlich 168 Thaler, fast ein halber Jahreslohn für ihn.

Hermann redete oft auf seine Frau ein, endlich einzuwilligen, fühlte er doch einen immer stärkeren Druck, die Furcht, vielleicht zu spät zu kommen. Die neugegründeten Aktiengesellschaften stellten es geschickt an, ans Geld der Leute zu kommen. Sie verknappten das Angebot künstlich – die Papiere der Neugründungen wurden an einem bestimmten Tag bei drei oder vier Banken zur Zeichnung aufgelegt. Nur wer an diesem Tag zugriff, bekam die Aktie zum Ausgabepreis. Was Hermann später erfuhr: Die Gesellschafter engagierten Tagelöhner und Bedienstete, um bei der Neuauflage eines Anteilscheines einen Ansturm von Kaufwilligen zu inszenieren.

Der Geldregen schien nie ein Ende zu nehmen. Die Summe, die Preußen aus Frankreich herauspresste, war unvorstellbar. Waggonweise kamen die Goldmünzen, Schuldscheine und Silberbarren nach Berlin. Ein Ökonom versuchte, seinen Landsleuten das Unfassbare greifbar zu machen. Die 1,3 Milliarden Thaler Reparationen reichten aus, jedem Deutschen, vom Säugling bis zum Greis, einen Teelöffel aus purem Gold zu schenken. Und jeder wollte seinen goldenen Löffel auch haben. Er kaufte Aktien. Mit dem fremden Geld putzte sich Berlin heraus. Die Gebäude wurden immer prachtvoller mit protzigen Fassaden, die die Stile vergangener Epochen hemmungslos plünderten. Selbst die Pissoirs hatten die Form von griechischen Tempeln.

Noch immer ist Hermann wie betäubt. Wie soll er es nur seiner Friederike gestehen. Sie sind bankrott. Grübelnd schleppt er sich durch die Straßen. Plötzlich steht er vor den gerade erst eröffneten Kaiserpassagen. Alle Berliner sind stolz auf diesen Palast, dessen Bau fünf Jahre gedauert hat. 128 Meter ist der glasüberdachte Kauftempel lang, der die Straße Unter den Linden mit der Friedrichstraße Ecke Behrenstraße verbindet. Er bietet auf drei Etagen Platz für mehr als 50 Geschäfte, Cafés und Restaurants. Wie kaum ein anderes Projekt symbolisiert die Passage Glanz und Elend der Gründerzeit. Das Baugeld beschafften sich die Gesellschafter mit Aktien – und eröffnet wurde es erst kurz vor dem Börsenkrach. Zwar schieben sich die Massen durch den Bau, bewundern dessen Architektur mit den zahlreichen Türmchen, Bögen und Erkern. Doch einkaufen wollen hier nur wenige. Die Einkaufsflächen sind schwer zu vermieten und wenn, dann nur gegen kräftigen Mietnachlass. Die erhoffte Dividende ist nicht zu erwirtschaften. Doch der Gedanke, dass er nicht der einzige Geprellte ist, tröstet Hermann nur wenig. Was hilft jetzt die Gewissheit, einen Fehler gemacht zu haben? Ja, er wollte wie alle mitscheffeln. Doch wegen der Angst seiner Frau vertraute er das Geld einem scheinbar seriösen Unternehmer an – Heinrich Quistorp – und seinem scheinbar seriösen, bodenständigen Gewerbe: einer Bauunternehmung. Da konnte doch nichts schief gehen. Schließlich brauchte die explosionsartig wachsende Stadt nichts mehr als Wohnraum. Die Mietskasernen quollen über, die Mieten stiegen so schnell, dass viele ärmere Familien nur in Bretterbuden auf den noch zahlreichen unbebauten Flächen eine Unterkunft fanden.

Die gesamten Ersparnisse und das Erbe seines Vaters steckte Hermann in drei Aktien von Quistorps „Deutschen Central-Bau-Verein“ – das Stück zu 200 Thaler. Jeden Tag studierte er zufrieden die Kurszettel in der Zeitung. Immer, wenn es seine Zeit erlaubte, ging er zur Berliner Börse, dem riesigen klassizistischen Gebäude an der Burgstraße Ecke Neue Friedrichstraße. 5000 Leute finden hier Platz, der größte geschlossene Raum Berlins, ein würdevoller Raum mit zweietagigen Säulengängen an den Seiten und der großen Börsenuhr unter dem gewölbten Dach. Täglich drängen sich die Neuaktionäre an den Kontrolleuren vorbei, schieben sich durch die große Drehtür zum Allerheiligsten, wo Angebot und Nachfrage die Kurse bestimmten. In der Wachstumszeit standen die Männer in Paletot und mit Zylinder auf dem Kopf in Grüppchen beisammen und diskutierten über die Aussichten. Jeder hielt sich nach der täglichen Zeitungslektüre für einen erfahrenen Spekulanten. Man kaufte wie im Rausch.

Dabei gab es Warnungen. Schon am 7. Februar 1873 sagte der Abgeordnete Eduard Lasker im Landtag einen Börsenkrach voraus und geißelte die ungesunde Verquickung von Geschäft und Politik. Obwohl die Aufmerksamkeit für die dreistündige Rede groß war, wachten nur die wenigsten aus ihren Börsenträumen auf – auch Hermann verschloss seine Augen vor der Wahrheit.

Noch immer traut er sich nicht nach Hause. Er fährt mit der Pferdebahn zur Siedlung Westend, auch hier hatte Quistorp gebaut. Manchmal träumte Hermann davon, wie er hier eine Villa bezöge. Der Anblick der Gartenhäuser und Villen war es gewesen, der ihn Vertrauen zu Quistorps Unternehmungen fassen ließ. Schließlich stattete ja sogar Wilhelm I. vor fünf Jahren – als er noch König der Preußen war und nicht schon Kaiser der Deutschen – der Siedlung einen Besuch ab und sagte ihr eine große Zukunft voraus. Jetzt erregen die halbfertigen Gebäude nur noch Hermanns Wut. Aus der Traum. Hermann schlägt fröstelnd den Kragen seiner Jacke auf. Friederike wartet, er muss es ihr sagen. In seiner Jackentasche knistert die Aktie.

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