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Trauen Sie sich nur. Gisela Raimund ist für Opfer da. Manch einem sieht man das seelische Leid hinter der Fassade nicht an. Sie hat Adressen von Therapeuten parat.

© Thilo Rückeis

Der Weiße Ring in Berlin als Retter in der Not: Hilfe für Opfer von Straftaten

Nach Straftaten stehen die Opfer oft alleine da. Wären da nicht Helfer wie Gisela Raimund vom „Weißen Ring“.

Der Sommer ist eine gute Zeit für ihn, da sind die Tage länger, die Dunkelheit kommt relativ spät. Da kann er noch am frühen Abend auf die Straße, das Tageslicht reicht aus. Natürlich geht er nicht allein. Ohne Begleitung traut er sich nicht mehr aus dem Haus. Und bei Dunkelheit sowieso nicht mehr, selbst wenn er einen Freund neben sich hätte. Die Wohnung ist dann sein Gefängnis, er ist dort gebunden, seit ihm dieser Typ irgendwo in Berlin auf offener Straße sein Handy und sein Geld gestohlen hat.

Er ist ein Hüne, und er hat Angst

Angst diktiert jetzt Gang und Gesten, jeder Fremde könnte ein potenzieller Angreifer sein. Die Muskeln sind angespannt, die Blicke misstrauisch, der Auftritt eines traumatisierten Opfers. Ein Opfer? Was für ein Gedanke, auf den ersten Blick jedenfalls. Er ist Anfang 20, er ist 1,90 Meter groß, ein respekteinflößender Hüne. Das ist die Hülle. „Angst kann verdammt tief gehen“, sagt Gisela Raimund. „Sehr viele Menschen unterschätzen, was ein Raub in einem auslösen kann.“

Sie beschreibt ihn gut, diesen jungen Mann mit seinen Ängsten, mit seinem Gefühl der Hilflosigkeit, dieses verstörte Opfer, das vor ihr gesessen hat. Er wollte jemanden, der sich in seine Situation reinfühlen konnte. Er fand Gisela Raimund, eine 67-Jährige mit wachem Blick, die einerseits konzentriert zuhört, aber auch durchaus resolut wirken kann. Vor allem aber arbeitet sie für den „Weißen Ring“.

Der hilft Opfern von Kriminalität, ganz allgemein. Von Frauen, denen die Handtasche gestohlen wurde, bis zu traumatisierten Angehörigen von Mordopfern haben die Mitarbeiter alles schon erlebt. Zum „Weißen Ring“ kommen Menschen, die überrollt werden vom Gefühl von Hilflosigkeit und Angst. Menschen, die in Sekundenschnelle aus ihrer Alltagsroutine gerissen wurden und schwer oder gar nicht mehr in sie zurückfinden.

120 Mitarbeiter besuchen die Opfer

Polizei, Protokolle, Vernehmungen, Gerichtsprozesse, das sind für solche Opfer bloß nüchterne Stationen der Aufklärung einer Straftat. Dort treffen sie höchstens noch auf routiniertes Mitgefühl. Doch in ihrem seelischen Schmerz benötigen sie Menschen, die ihnen Halt geben.

Diese Aufgaben übernehmen die Mitarbeiter des Weißen Rings. Ein Telefonanruf genügt, dann stehen sie bereit. „Kern unserer Arbeit ist das große Einfühlungsvermögen“, sagt Gisela Raimund.

Sie sitzt an einem schwarzen Konferenztisch in der Zentrale des Landesverbands. Hier herrscht die Atmosphäre kühler Geschäftigkeit. Hier organisieren zwei Teilzeitkräfte die Verwaltung des Berliner Verbands. Die Gespräche, die Vertrauen schaffen und Ängste abbauen, finden in den Wohnungen der Opfer statt, im geschützten Raum. Die 120 Mitarbeiter gehen immer zu den Opfern.

14 Außenstellen hat der Weiße Ring in Berlin, jede wird von einem Mitarbeiter geleitet, der noch acht bis zehn weitere Helfer hat. Alles Freiwillige, aus verschiedensten Berufen. Im Bereich Wilmersdorf-Charlottenburg arbeiten Ärzte, Pfarrer, ein Lehrer, eine Sekretärin, eine Hausfrau, ein Versicherungsvertreter.

"Man muss auf Menschen zugehen können"

Gisela Raimund ist seit 2007 dabei, sie leitete die Außenstelle Tempelhof-Schöneberg. Nach ihrer Pensionierung suchte sie etwas „Sinnvolles“. Sie stieß auf den Weißen Ring und absolvierte die übliche Ausbildung. Dreimal begleitete sie einen Außendienstleiter bei Gesprächen, danach konnte sie sich entscheiden: Mach ich mit oder ist das nichts für mich?

Sie blieb und absolvierte an einem Wochenende ihr Grundseminar. Später dann ein Aufbauseminar und Fortbildungen. Die entscheidenden Punkte aber, die kann man nur schwer lernen: „Man muss zuhören, aber auch auf Menschen zugehen können.“ Wer selber ohne Punkt und Komma spricht, ist ungeeignet.

Gisela Raimund hat oft genug erlebt, „dass sich die Menschen schutzlos fühlen, dass sie denken, man glaubt ihnen nicht. Oder sie fühlen sich von der Polizei schlecht beraten.“ Der junge Mann, der sich nicht mehr auf die Straße traut, wollte auch vor allem nur reden. Gisela Raimund gab ihm den Rat, psychologische Hilfe anzunehmen.

Das ist eine der Möglichkeiten, die sie hat. Der Weiße Ring ist keine Fachorganisation für Rechtsfragen oder psychologische Therapien. Gisela Raimund kann Adressen von Rechtsanwälten oder psychologischen Anlaufstellen weitergeben. Es gibt auch eine Art Nothilfe, die Möglichkeit zur juristischen Erstberatung, organisiert vom Weißen Ring. Sie darf auch in einer finanziellen Notlage 250 Euro Soforthilfe auszahlen, nach Prüfung der Bedürftigkeit natürlich. Die Hilfsorganisation finanziert sich vor allem aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen. Aber Hauptaufgaben sind Trost, Verständnis, Ratschläge. Dieses Verständnis hatte auch eine Rentnerin gesucht, eine Frau Mitte 70, die Gisela Raimund ihre Geschichte erzählte. Die ältere Dame war auf einen gepflegten Mann reingefallen, den sie in ihre Wohnung gelassen hatte. Vor der Haustür hatte er sehr höflich gefragt, ob er bei ihr telefonieren könne. Hinter der Wohnungstür hatte er sehr barsch gesagt: „Wo ist das Geld?“ Er durchwühlte ihre Wohnung, fand Geldscheine und ließ eine völlig verstörte Frau zurück.

Den Zuspruch, den ihr später Gisela Raimund geben sollte, den hatte sie eigentlich von ihrer Nichte erwartet. Doch die verkündete bloß: „Lass halt keine Fremden in die Wohnung.“ Die Nummer des Weißen Rings hatte sie von der Polizei. „Es ging ihr gar nicht um die Rückerstattung des Geldes“, sagt Gisela Raimund. Der psychische Halt war wichtig.

Aber die Ratgeberin sah natürlich die finanzielle Notlage. „Ich bringe Geld vorbei“, sagte Gisela Raimund der verstörten Frau, die zudem erheblich gehbehindert war. Als die 67-Jährige dann mit Bargeld auftauchte, erlebte sie einen dieser Momente, bei denen Emotionen ganz tief ins Herz dringen. Auf dem Tisch stand ein Blumenstrauß, die Hausherrin hatte ihn extra für Gisela Raimund gekauft. Und nun standen zwei Menschen vor der Vase, zutiefst erfüllt vom Gefühl enormer Dankbarkeit. Das betagte Opfer war glücklich, weil man ihm zugehört hatte, Gisela Raimund war überwältigt, weil sie wusste, wie mühsam ihre Gastgeberin die Blumen besorgt hatte. In dieser Sekunde wurde sie mal wieder für ihren Einsatz und ihr Engagement belohnt.

Die Frau wurde verstümmelt

Erheblich brutaler allerdings war der Fall einer jungen Frau, zu der Gisela Raimund mal gerufen wurde. Ein Bekannter hatte sie grausam verstümmelt. Gisela Raimund fuhr zu ihr ins Krankenhaus. Dort traf sie auf eine Ärztin, die ihr mitteilte, dass viele Patienten für die Verletzte spenden wollten. Die Bundeszentrale des Weißen Rings richtete ein Spendenkonto ein, auf dem am Ende 5000 Euro landeten. Das Opfer sagte gegen den Täter, einen Migranten aus, die Frau ist bis heute im Zeugenschutzprogramm. Der Weiße Ring hatte ihr am Anfang mit einem Rechtsanwalt geholfen, der sich mit internationalem Recht auskennt.

Gisela Raimund ist erfahren, sie kommt psychisch mit solch drastischen Fällen klar. Das schafft nicht jeder. „Aber ein Mitarbeiter“, sagt Gisela Raimund, „kann den Fall auch an einen Kollegen weitergeben, wenn er ihm zu brutal ist.“

Kontakte und Informationen

Der „Weiße Ring e.V.“ zur Opferhilfe und Straftatenprävention hat ein Opfertelefon, die Nummer lautet: 116006 (kostenfrei). Das Büro Berlin hat die Rufnummer 8337060.

Im Internet: www.weisser-ring.de/internet/landesverbaende/berlin. Dort sind auch die Kontaktdaten der Außenstellen zu finden. Die Mailadresse des Landesverbands lautet: lbberlin@weisser-ring.de

Wer spenden möchte, kann dies unter folgender Bankverbindung tun: Deutsche Bank Mainz BIC: DEUTDE5MXXX, IBAN: DE26 5507 0040 0034 3434 00. Formulare für die Mitgliedschaft in dem Verein sind über die Internetseite erhältlich. Die Mitarbeit beim Weißen Ring ist freiwillig, Interessenten werden gesucht und können sich gern beim Landesverband melden.  

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