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Berlin: Der Wendepunkt

Von Brigitte Grunert Es war ein Ereignis von weltpolitischer Tragweite. Doch keiner ahnte vor 30 Jahren, dass die Außenminister der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs im Schöneberger Kleistpark Geschichte schrieben.

Von Brigitte Grunert

Es war ein Ereignis von weltpolitischer Tragweite. Doch keiner ahnte vor 30 Jahren, dass die Außenminister der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs im Schöneberger Kleistpark Geschichte schrieben. Im Kontrollratsgebäude, dem vormaligen und heutigen Kammergericht, setzten sie am 3. Juni 1972 mit ihren Unterschriften das Viermächte-Abkommen über Berlin samt ergänzenden Vereinbarungen über den Transit- und Besucherverkehr in Kraft. Das Ereignis markierte den Wendepunkt vom Kalten Krieg zur Entspannung. Aus historischer Sicht kann man es den Anfang vom Ende der deutschen Teilung nennen.

Es war kein Tag der Freudentänze. Die Mauer- und Blockade-Berliner trauten dem Frieden nicht. Zwar konnte man über die beiden Probeläufe mit der Transit- und Besuchsregelung über Ostern und Pfingsten nicht meckern, aber die Mauer blieb martialisch, das Grenzregime bürokratisch, stachelig, furchterregend. Und der Traum von der Zugehörigkeit West-Berlins zum Bund hatte sich nicht erfüllt. Im Abkommen stand schwarz auf weiß, dass Berlin weiterhin kein Bestandteil der Bundesrepublik sei und nicht von ihr regiert werde, wenngleich die Bindungen an den Bund „aufrechterhalten und entwickelt werden“. Man las die Botschaft teils skeptisch, teils enttäuscht.

Das Abkommen war eine Bestandsaufnahme der realen Lage. Die vier Mächte versprachen sich, diese nicht einseitig zu verändern, Streitigkeiten friedlich statt mit Waffengeklirr auszutragen, mehr Sicherheit und praktische Verbesserungen zu schaffen. Die Westalliierten nahmen die Existenz der DDR zur Kenntnis, die Russen leugneten das Existenzrecht West-Berlins nicht mehr. „Das hieß, mit dem Status quo können wir leben“, sagt der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Schütz. Er stellte sich auf den „Modus vivendi für lange Zeit“ ein. „Und doch war es die Voraussetzung für den Zusammenbruch des Kommunismus“, urteilt er aus heutiger Sicht. „Der DDR kam das Feindbild abhanden, das totalitäre Systeme brauchen.“

Die Botschafter der vier Mächte hatten das Abkommen schon am 3. September 1971 nach anderthalbjährigen Verhandlungen im Kontrollratsgebäude unterzeichnet und die „zuständigen deutschen Behörden“ mit den „ergänzenden Vereinbarungen“ beauftragt. Das ging flink. Bereits im Dezember unterzeichneten Willy Brandts Kanzleramtsstaatssekretär Egon Bahr und DDR-Staatssekretär Michael Kohl das Transitabkommen, Senatskanzleichef Ulrich Müller und Günter Kohrt vom DDR-Außenministerium die Reise- und Besuchsregelung für West-Berliner. Außerdem verabredeten Müller und Kohrt einen „umfangreichen Gebietsaustausch“ zur Begradigung der Mauer. Die West-Berliner in der Exklave Steinstücken profitierten als erste davon durch den Bau eines drei Meter breiten Zugangsweges, vorbei die Zeit der Schlagbäume und Schikanen. Ihr Werk krönten Verhandlungsdelegationen des Senats und der DDR mit einem Mittagessen im Ost-Berliner Fernsehturm – der hermetisch abgeriegelt wurde. So war eben die Lage.

Die Verständigung ungeachtet kontroverser Rechtspositionen war schon ein diplomatisches Kunstwerk. Das Viermächte-Abkommen war wohl das einzige auf der Welt, dessen Geltungsbereich in der Schwebe blieb. Berlin war das „betreffende Gebiet“. Der Grund: Nach östlicher Lesart ging es nur um West-Berlin, nach westlicher um ganz Berlin in der Viermächte-Verantwortung. Das liest sich so: „Die Kommunikation zwischen den Westsektoren Berlins und Gebieten, die an diese Sektoren grenzen, sowie denjenigen Gebieten der Deutschen Demokratischen Republik, die nicht an diese Sektoren grenzen, wird verbessert werden.“ In der Müller-Kohrt-Vereinbarung wurde nur „der Senat“ als Vertragspartner genannt, die DDR akzeptierte keinen „Senat von Berlin“.

Die Tinte war noch nicht trocken, als der Interpretationsstreit begann, der nie enden sollte. In der DDR-Sprachregelung war es das „Vierseitige Abkommen über Westberlin“; Erich Honecker lobte es als Beweis für die Souveränität der DDR. Schütz hielt sich ans Praktische. Er sprach von einem „Meilenstein auf dem Weg in die gesicherte Zukunft Berlins“. Aber im Rathaus Schöneberg ging es in Abgeordnetenhaus-Debatten hoch her. Sie drehten sich um den Vorwurf, der SPD-Senat habe nicht genug erreicht, die Spaltung werde vertieft. Die CDU-Opposition votierte gegen eine zustimmende Resolution. Schütz erinnert sich auch der – fraktionsinternen – Gegenstimmen in der SPD.

Das Viermächte-Abkommen war verknüpft mit den Bonner Ostverträgen. Deshalb wartete man mit der Inkraftsetzung bis zur Ratifizierung der Ostverträge. Und um dieser Debatte nachzuhelfen, initiierte die DDR die Vorabregelungen zu Ostern und Pfingsten 1972; gut eine Million Westbesuche im Osten wurden gezählt. Mittwoch vor Ostern durften West-Berliner zum ersten Mal seit 1952 die DDR besuchen und zum ersten Mal seit der Passierscheinregelung von 1966 Ost-Berlin. Das Wiedersehen mit Angehörigen und Freunden war herzerwärmend, aber nicht mehr so erschütternd wie zu Weihnachten 1963, zwei Jahre nach dem Mauerbau. Die West-Berliner Presse registrierte überrascht das zuvorkommende Verhalten der östlichen Grenzorgane; später waren sie nicht mehr großzügig. Zum ersten Mal überhaupt rollte der Transitverkehr zwischen Berlin und Westdeutschland problemlos durch die DDR. Kein Aussteigen mehr, keine Durchsuchungen, keine Zurückweisungen, Identitätskontrolle am Auto, das war eine bedeutsame Verbesserung.

Gar nicht geschätzt wurden bürokratischen Hürden bei Ost-Besuchen (30 Tage im Jahr, später 45) mit Antragsfristen, Grenzkontrollen und Zwangsumtausch eins zu eins (anfangs fünf Mark beim Tagesaufenthalt, später von der DDR bis auf 25 Mark hochgeschraubt). Die DDR ließ sich die menschlichen Erleichterungen mit viel „Rheingold“ entgelten. Beispielhaft sei die jährliche Transitpauschale von 234,9 Millionen Mark West genannt. Es gab auch weiter reichlich Reibereien, aber alles in allem lernte Berlin mit dem „Grundgesetz“ des Viermächte-Abkommens zu leben, bis es zum Tag der Einheit am 3. Oktober 1990 aufgehoben wurde. Als Lehrstück ruht es in den Archiven.

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