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Berlin: Detektiv am Seziertisch

Volkmar Schneider, Berlins bekanntester Gerichtsmediziner, wird 65. Ans Aufhören denkt er noch nicht

Der Schnitt mit dem Skalpell zur Öffnung des Bauchraumes, die Arbeit mit der Säge, um die Schädeldecke abheben zu können: Tausende Male hat Volkmar Schneider das gemacht. Der Pathologe hat tausende toter Menschen so gesehen, wie die, als sie noch lebten, sicher nie gesehen werden wollten: als Opfer von Mord und Totschlag und Attentat, erwürgt, erstochen, erschlagen, erschossen. Oder am Ende vollständiger Hoffnungslosigkeit, nach dem Freitod. Oft hat er sie an dem Ort gesehen, an dem ihr Leben endete, zu jeder Tages- oder Nachtzeit, bei allen Temperaturen, in vielen Stadien des Verfalls. Wer aber meint, Schneider rede darüber wie der Stichwortgeber eines Krimiautors, täuscht sich über den Mann mit dem leuchtend weißen Haar und dem Gelehrtenbart. Volkmar Schneider hält wie so viele von denen, die beruflich an den Orten des Verbrechens zu tun haben, nichts von Krimis. Vier Tatorte habe er jüngst an einem Tag mit zu untersuchen gehabt, sagt er, sein Blick spricht dabei von Müdigkeit. Er sei um halb zehn abends nach Hause gekommen, habe etwas gegessen und sei schlafen gegangen.

Nachts lassen ihn die Toten in Ruhe, und sie steigen auch sonst nicht aus der Erinnerung auf, die meisten jedenfalls nicht. Wenn es auch brutal klingt – die Leichen, die Schneider zu untersuchen hat, sind Sachen. Vermutlich übersteht man die fast täglichen Begegnungen mit dem Tod nur, wenn man zu höchster Form entwickelt, was man schon immer war, lange vor dem ersten Tatort: Naturwissenschaftler. Erforscher von Kausalitäten. Betrachter von Messwerten, Tabellen, mechanischen und chemischen Zusammenhängen. „Wenn ich am Tisch stehe, sind die Befunde für mich das entscheidende“, sagt Volkmar Schneider.

Man kann ihn nach allem anderen fragen, nach dem ersten Tatort – ein junge Frau, aufgefunden in einem Bettkasten – , nach den Extremismen seines Berufslebens, dem Schrillen. Er antwortet darauf indirekt. Zum Umgang mit der Sache, der mal Leben innewohnte, gehört für ihn Diskretion, Dezenz, eben strenge Sachlichkeit, Respekt – vor dem Leben. Für die meisten Leute dürfte der Gedanke, auf einem der vier Edelstahltische in der Pathologie zu enden, tief in einen Alptraum führen. Da ist der sachlich-naturwissenschaftlicher Umgang mit der Situation der einzig erträgliche. Der lässt Raum für das Leben. Die Frage nach dem Gegengewicht beantwortet er unter einem rasanten Wechsel in der Mimik. Eben noch hatte er die Brauen zusammengezogen, der Blick düster, in die Ferne gerichtet. Jetzt zeigt er mit Stolz und Freude auf die Fotos von sechs Enkeln. Sechs Gegengewichte. Sechs Kindergesichter in einem geordneten Dahlemer Büro, in dem bildlich nichts an den Tod erinnert, auch wenn fast alle Bücher davon handeln. Schneider ist nicht Mediziner geworden, um drei Berliner pathologische Einrichtungen zu leiten. Biologie, sei „mein Fach“ gewesen. Über die Promotion geriet er zur Forensik: „Der Ertrinkungstod“ lag am Anfang von Schneiders Karriere.

Ohne Ehrgeiz wird man nicht der Erste im Metier in einer Dreieinhalbmillionenstadt. Für Schneiders Generation kommt das preußische Pflichtgefühl dazu. In Zeiten, in denen jeder Privatsender seine Gerichtsmedizinerserie hat und Stars der Szene wie Mark Benecke um die Welt reisen, sagt Schneider über die Voraussetzungen des Berufes, man müsse „gesund sein“: Der Bereitschaftsdienst dauert sieben Tage und sieben Nächte, eine Sektion zwei bis sechs Stunden. Mord und Totschlag haben oft mit einem Milieu zu tun, in dem schwer getrunken wird. Wie dann die Tatorte aussehen, kann man sich vorstellen. Das sei ein Beruf, sagt Schneider, „der einem nichts schenkt“.

Außer klaren Gedanken über den Tod. Schneider sagt, er versuche so zu leben, „dass es jeden Tag zu Ende sein kann“. Dazu gehört, dass er über den an diesem Freitag gefeierten 65. Geburtstag hinaus arbeitet. Nebenher bereitet er ein Buch vor. Benno Ohnesorg wird darin vorkommen, Günter von Drenkmann, andere bekannte Tote. Er organisiert die Zusammenlegung der rechtsmedizinischen Universitätsinstitute an der Freien Universität. Das hat damit zu tun, dass die Pathologie in der Hittorfstraße vor Jahren neu eingerichtet worden ist. Würde die Gerichtsmedizin in Mitte wiederhergestellt, wären zig Millionen Euro nötig. Er wundert sich ein wenig über Ostberliner Kollegen, die an der Hannoverschen Straße arbeiteten und nicht damit fertig werden, dass sie künftig nach Dahlem fahren sollen. Er misst an dem Konflikt die Tiefe des Ost-West-Gegensatzes – Humboldt- gegen Freie Universität. Es ist ein wenig wie zu Beginn der 90er Jahre. Weniger an der Gerichtsmedizin als an der Kriminalistik zeigte sich damals, wie staatsnah Wissenschaft in der DDR zu sein hatte. Als die Universitätskriminalistik abgewickelt wurde, nahm sich einer der Kriminalisten das Leben. „Den hatten wir dann hier auf dem Tisch“, sagt Schneider ganz versonnen.

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