zum Hauptinhalt

Berlin: Detlef Graw (Geb. 1941)

"Er besteht aus Glas und Scherben, und die frisst der Teufel nicht"

In der Werkstatt will ich irgendwann mal tot umfallen. Wie ein Künstler auf seiner Bühne.“ Das war der große Wunsch von Detlef Graw. Er war ja selbst nicht nur Handwerker, sondern auch eine Art Künstler. Ein Kunst- und Bleiglasermeister. Vertreter eines aussterbenden Handwerks, das 1000 Jahre alt ist. Im Augsburger Dom strahlen die ältesten Bleiglasfenster bis heute im Wechselspiel von Farbe und Licht.

„Kunst- und Hobbyglaserei“ steht an seinem ersten Laden in Wilmersdorf – was für eine Untertreibung! Dahinter eine kleine Werkstatt, die Großes für die Kunden schafft. Für die Jugendstil-Fensterflächen des „Theater des Westens“ ein Riesenpuzzle aus mehr als 15 000 Teilen, alles in mühsamer Handarbeit. Stück für Stück heißt das: Aus Entwürfen Schablonen machen, Glas nach Schablone passgenau zuschneiden, den Zuschnitt zu Bleifeldern zusammensetzen, Rahmen löten, kitten und kleben. Eine Präzisionsarbeit in der farbigen Scherbenwelt, die Produktion von Pracht. Arbeit für das Scheichtum Dubai und für den Milliardär Onassis.

Und das für einen, der in Neukölln aufgewachsen ist. Keine leichte Kindheit, der Vater arbeitet in einer Schnapsbrennerei und herrscht daheim mit harter Hand. Detlef und sein Bruder müssen ihm abends seinen Stolz, das neue Moped, in den zweiten Stock wuchten. Die Jungs laufen im Familienleben mit, der Tochter gilt die ganze Liebe. 1956 beginnt Detlef seine Lehre bei der angesehenen Firma „Puhl und Wagner“, die ihre Glas- und Mosaikarbeiten in die ganze Welt liefert. So kann der Lehrling einige Mosaikstückchen in die edle Badewanne des Tankerkönigs Onassis kleben. Sein Gesellenstück, eine Glasarbeit nach einem Motiv des Expressionisten Franz Marc, verrät frühe künstlerische Ambitionen.

Nach 15 Jahren und mit Meistertitel verlässt er die Firma, will eigene Wege gehen. Mit 60 Mark meldet er sein Gewerbe an und es kommt der erste Großauftrag: In Dubai werden Hängelampen für den riesigen Speisesaal des Hilton Hotels gebraucht. Graw fertigt die komplizierten, großen Lampen aus Blei und Glas nach einem arabischen Entwurf zunächst in seinem Wohnzimmer an, dann in einer Werkstatt. Freunde und Arbeitskollegen von früher unterstützen ihn. Er schläft in der Werkstatt – der Termindruck. Als die Lampen fertig sind, schließt er die Werkstatt ab und begibt sich auf Weltreise, fast ein Jahr lang. Zurück kommt er mit leeren Taschen, aber einem Kopf voller Ideen.

Ein Kleinbetrieb entsteht. Er macht nun alles, was man mit Glas machen kann: Fenster vom Keller bis zum Dach, vom Einfamilienhaus bis zum Wolkenkratzer, sogar Schiffsverglasungen. Versicherungsschäden, Filigranarbeiten, originalgetreue Sanierungen. Und jede Menge Kleinkram, der Kundenbindung schafft. Vielleicht wird es mal was Großes, so wie bei dem Projektmanager aus Lankwitz, der sein neues Haus mit Bleiglas dekorieren lässt. Solche Einzelanfertigungen bringen gutes Geld. Das teure Materiallager wächst. Aber der Kunde will ja auch was sehen. In 200 Schubläden liegen wertvolle Einzelstücke, viele davon mundgeblasen.

Der Kleinbetrieb wird zum Lebensmittelpunkt und Familienersatz. Die Azubis behandelt er respektvoll; selbst wenn mal ein wertvolles Glas zu Bruch geht. Mittags steht er in der Küche und kocht, abends trinken sie zusammen Bier in seiner Stammkneipe „Zum Auerhahn“. Fast alle werden später ihren Meister machen, was ihn freut. Sein totgesagtes Handwerk lebt weiter.

Für partnerschaftliche Beziehungen bleibt wenig Raum. Es gibt sie, aber keine ist von Dauer. Darüber spricht er nicht viel, auch nicht mit seinem Freund Werner, der die Entwürfe für die Glasbilder macht, wenn der Chef zu hektisch ist.

Einmal sind Leute vom Film bei ihm zu Gast. Sie nutzen seine Werkstatt als Kulisse. Es wird ein Sketch gedreht, „Der Glaser“ mit Harald Juhnke und Eddi Arent.

Er selbst geht die Dinge mit einem großen Ernst an; nicht nur die Glaserei, ebenso seine Hobbies: Briefmarken sammeln und Sport. Er läuft den Marathon in New York und Sydney.

Dann, vor 25 Jahren, der Arbeitsunfall. Eine schwere Kiste mit Glas begräbt seinen Unterkörper, ein Bein ist schwer verletzt. Kaum kann er nach der Operation auf Krücken stehen, humpelt er schon wieder in die Werkstatt.

Richtig verheilen wird die Wunde nicht mehr – und trotzdem läuft er den Marathon weiter, dann eben mit einer Spezialmanschette am Bein. Er macht lange Touren mit dem Fahrrad und mit dem Motorrad. Er braucht das.

Mit dem Auftrag fürs „Theater des Westens“ erlebt sein Betrieb den großen Aufschwung: ein 100-Quadratmeter-Puzzle, ein halbes Jahr Arbeit. Zur Premiere des Musicals „Nonstop“ mit Nadja Tiller am 5. Januar 1980 soll alles fertig sein. Er bestellt Premierenkarten, doch seine Zuversicht ist klein: „Hoffentlich denkt man dann auch an mich und meine Arbeit. Aber meistens sind die Karten schon vergeben an Leute, die für wichtiger gehalten werden.“ Da irrt er sich.

Sein Betrieb expandiert, Aufträge von Künstlern wie Kurt Mühlenhaupt oder die Verschönerung des Cafe „Tiffany’s“ im Europa-Center. Die 14 Meter lange und fast zwei Meter hohe Wandverglasung bewältigen er und seine Mitarbeiter locker. Dann steht das Bett eben wieder neben der Werkbank und er kocht das Essen nicht selbst, sondern lässt es bringen.

Auf seine Arbeiten ist er stolz. Um die Fenster in der Zwölf-Apostel-Kirche, eine seiner Lieblingsarbeiten, öfter zu sehen, wechselt er die Gemeinde. Er glaubt an sein Handwerk, das Kunstwerke schafft. Die Glaserei ist nicht tot. Und er schon lange nicht. Seinen Kunden in der Werkstatt zeigt er einen alten Sinnspruch: „Alle Menschen müssen sterben, nur der alte Glaser nicht. Er besteht aus Glas und Scherben, und die frisst der Teufel nicht.“

Nach 30 Jahren die Möglichkeit zum Innehalten: Der Mietvertrag für die Werkstatt wird nicht verlängert. Aber ein Rentnerdasein ist für Detlef Graw unvorstellbar. Lange überlegen muss er wohl nicht, als die Gebrüder Daniel und Oliver Meibert, die bei ihm gelernt haben und vor der Meisterprüfung stehen, einen Vorschlag machen: „Wir haben einen besseren Einstieg, du einen besseren Ausstieg.“ So geht es in Neukölln weiter, hier sind die Mieten billiger. In einer ehemaligen Schmiede bauen sie die neue Werkstatt auf.

Besucher betreten eine faszinierende Welt. Florale Jugendstil-Ornamente, Kirchenglasfenster, modern gestaltete Glasbilder in explodierendem Farbenrausch, naive Kaffeetassen-Mosaike. Mehr als 1000 verschiedene Gläser stehen zur Verarbeitung bereit, der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt, vor allem das Material macht den großen Unterschied.

Als Meister übernimmt Graw die technische Leitung, die Jungs, die mit Schulpraktika bei ihm angefangen haben, bemühen sich, seinen Ansprüchen zu genügen. Mit 67 Jahren schafft sich Detlef Graw einen Computer an und befindet sich wieder auf der Höhe der Zeit. Alte Kunden bleiben, neue kommen hinzu. Und der Meister weiß alles über den Werkstoff Glas, er liebt das Antik-Glas der Glasbläserei Lamberts aus der Oberpfalz und führt nach wie vor auch Industrieglas. Für keinen Auftrag ist er sich zu schade. Und schafft es dennoch, sein Arbeitspensum einzuschränken. Zuletzt ist er Berater auf Minijob-Basis.

Die freie Zeit füllt er inzwischen mit einem ungewöhnlichen Hobby. Touristen, die verloren mit dem Stadtplan auf der Straße stehen, bietet er eine Stadtführung an. Er will das Berlin zeigen, das er so liebt. Natürlich umsonst. Wenn ein Dampfer der „Weißen Flotte“ schon abgelegt hat, bevor seine Kleingruppe an Bord ist, wird umgedreht. Ohne ihn geht eben nichts.

Sein 70. Geburtstag wird zum rauschenden Fest, natürlich in seiner Kneipe. Die Brüder Meibert schenken ihm einen gläsernen Meisterbrief: Mit Sandstrahl haben sie auf eine Din-A3- große Antik-Glasscheibe „Gläserner Meisterbrief für Detlef ‚Bobby’ Graw in großer Anerkennung von Daniel und Oliver“ aufgetragen. Dass das ein Abschiedsgeschenk ist, ahnt keiner.

Wenige Wochen später ein Arztbesuch, nichts Besonderes. Auf dem Rückweg bricht Detlef Graw zusammen. Lungenembolie. Zurück bleiben farbige Scherben und ein Puzzle, in dem ein Teil fehlt. Erik Steffen

Zur Startseite