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Über das Justizsystem der DDR wird auch mehr als 20 Jahre nach der Wende noch gestritten.

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Deutsche Einheit: Bewährung im Kollektiv

Gabriele Ernst war die erste Frau aus dem Osten bei den Sozialen Diensten der Justiz und fühlte sich wie "ein Affe im Zoo" Gisela Erzberger meldete sich freiwillig für den Einsatz in Ost-Berlin und erwies sich schnell als "ossiphil".

Für Männer mit lockerer Sexualmoral war die DDR der bessere Staat. Das erfuhren die Betroffenen spätestens im Gespräch mit ihrer Bewährungshelferin Gisela Erzberger, Anfang der 90er Jahre, als es die DDR schon nicht mehr gab. „Überrascht“ reagierten die straffälligen Unterhaltspreller, sagt Frau Erzberger, und sie formuliert gelinde. Für jedes Kind, das ihren Liebesaffären entstammte, sollten sie nun zahlen. Bis zu fünf Kinder waren plötzlich zu versorgen. Für einfache Malocher ein völlig utopisches Unterfangen, was die Richter aber nicht gnädiger stimmte. Früher, in der DDR, wurde der Unterhalt einfach vom Gehalt abgezogen. Eine geringe Summe, die nicht weiter ins Gewicht fiel. Die meisten Frauen verdienten ja selber Geld und waren nicht auf den Kindsvater angewiesen.

Gisela Erzberger wurde bald Spezialistin für Unterhaltssachen und nebenher Beraterin in Verhütungsfragen. Sie hatte sich 1990 freiwillig gemeldet, als Bewährungshelferinnen-West für den Ostteil der Stadt gesucht wurden. Bereut hat sie es nie. Die Straffälligen aus dem Osten – im Fachjargon „Probanden“ – hat sie als „pflegeleichter und zuverlässiger“ in Erinnerung als die ausgebufften Gesetzesbrecher aus dem Westen. Letztere hatten gelernt, das System auszutricksen und ihre Ansprüche durchzusetzen.

Gisela Erzberger, 61, und Gabriele Stern, 54, lernten sich 1992 kennen, als sie mit anderen Bewährungs- und Gerichtshelferinnen eine ost-west-gemischte Arbeitsgruppe bildeten. Dienstsitz: Am Treptower Park. Eine aufregende und optimistische Zeit, die beide nicht missen möchten. Als „Riesenaufbruchstimmung“, erlebte es Gabriele Stern. „Damals war man noch autonomer“, sagt Frau Erzberger. Alle paar Monate wurde ein neues Projekt aus der Taufe gehoben, für delinquente Frauen, für betreutes Wohnen oder den Täter-Opfer-Ausgleich. Eine Caféteria mit Freizeitangeboten wurde eingerichtet. Die Straffälligen sollten sich aufgehoben fühlen und Vertrauen fassen.

Von vielen Ideen aus der Aufbruchsphase mussten sie sich später wieder verabschieden, aus Geld- und Personalmangel.

Gabriele Stern hat in den 80er Jahren Sozialpsychologie studiert und bekam anschließend eine Stelle in der Berufsberatung. Da wurde das Psychologische aber weitgehend ausgeblendet, so dass sie sich schnell wieder verabschiedete und einige Zeit als Kellnerin und Verkäuferin über Wasser hielt. 1984 bekam sie schließlich eine Stelle als Sozialpädagogin in den Kabelwerken Oberspree, einem großen Industrieunternehmen in Oberschöneweide.

Offiziell gab es in der DDR weder Sozialpädagogen noch Bewährungshelfer. Die „Kraft des Kollektivs“ sollte die sozialen Probleme des Einzelnen lösen. In den Kabelwerken durfte Gabriele Stern dabei etwas nachhelfen. Sie bekam vom Rat des Stadtbezirks Männer zugewiesen, die gerade ihre Strafe abgesessen hatten. Wer wegen „asoziales Verhaltens“ im Knast gesessen hatten, war bei den Abteilungsleitern besonders unbeliebt. Asoziales Verhalten bedeutete, dass jemand nicht arbeitete, keine Miete zahlte, sich also außerhalb der sozialistischen Norm bewegte.

Drohte jemand, in die Asozialität abzugleiten, etwa, weil er wiederholt nicht zur Arbeit erschienen war, holte Gabriele Stern ihn schon mal von zu Hause ab. Schwierig wurde es, wenn das Fernbleiben mit Quartalstrinken zusammenfiel.

Zur Wende war Frau Stern gerade mit einem weiterführenden Studium beschäftigt. Als die großen Entlassungswellen in den Kabelwerken begannen, bewarb sie sich in der Senatsverwaltung für Justiz. Im Herbst 1991 wurde sie angestellt, als erste Frau aus dem Osten. „Damals hat man mich angeguckt wie einen Affen im Zoo.“ Was kann die? Gehörte die mal zum Führungskader? Vielleicht sogar zur Stasi? „Du hast in den großen Besprechungen was gesagt, das fiel auf“, erinnert sich Gisela Erzberger. Die gegenseitigen Ressentiments wurden langsam aufgebrochen, indem man sich Geschichten erzählte. Die einen berichteten von den Grenzkontrollen, die anderen aus dem DDR-Alltag. So kam man sich näher.

Die Straffälligen aus dem Osten ergriff ebenfalls die Wendeeuphorie. Sie hofften zu Recht, dass sie nun mit mehr Respekt behandelt würden als im DDR-System. „Der DDR-Knast war ja viel härter“, sagt Frau Stern. Einer ihrer Probanden wurde zusammengeschlagen, weil er sich weigerte, im Gefängnis zu arbeiten. Der Mann war die vergangenen 20 Jahre lang ihr Klient, ein Alkoholiker, der immer wieder kleine Ladendiebstähle begann. Weder in der DDR noch im wiedervereinigten Deutschland war er integrierbar. Der Alkohol erwies sich als mächtiger als jedes staatliche Hilfesystem.

Im Vergleich zu den 90er Jahren empfinden die Bewährungshelferinnen ihre Arbeit heute als schwieriger. Kamen damals 60 Probanden auf eine Betreuerin, sind es mittlerweile bis zu 100. Erst vor kurzem wurden zwei Stellen bewilligt, um den Mitarbeitern etwas Luft zu verschaffen. Die Arbeit habe inzwischen mehr mit Koordinieren und Kontrollieren zu tun als mit direkter Hilfe zur Reintegration.

Gabriele Stern und Gisela Erzberger verstehen die Einheit Deutschlands trotz aller Kalamitäten als Gewinn, privat und beruflich. Frau Stern war nahtlos aus dem Arbeitsleben Ost in ein Arbeitsleben West gewechselt, bekam sofort Westtarif bezahlt, weil sie in einer Westdienststelle angefangen hatte. Das Reisen, das nun möglich wurde, machte sie zu ihrem Hobby. Gisela Erzberger gewann durch die neue Arbeit auch neue Freunde. Sie sei „ossiphil“, lobt ihre Kollegin und Freundin Gabriele.

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