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Deutsche Geschichten: Der Preis der Freiheit

22 Monate saß Heide-Lore Fritsch in DDR-Haft, verurteilt zu drei Jahren wegen versuchter Flucht. Dann hieß es plötzlich "Sachen packen!" Die Bundesregierung hatte sie freigekauft.

Den Anfang der Geschichte macht eine Szene wie aus einem Politthriller, an einem Septembertag 1963: Auf dem Lehrter Stadtbahnhof übergibt ein Beamter der Bundesregierung dem West-Berliner Anwalt Jürgen Stange 340 000 DM. Der steigt in die S-Bahn und fährt zur Friedrichstraße, dem ersten Bahnhof im Osten. Ein Oberst der Stasi erwartet ihn, kassiert das Geld: der Preis für acht politische Gefangene. Sie steigen in die S-Bahn nach West-Berlin. Fünf Minuten später stehen sie fassungslos auf dem Lehrter Stadtbahnhof. „Dass einer an mich gedacht hat!?“, sagt gerührt und überwältigt einer der Männer, der im Zuchthaus saß, verurteilt zu 25 Jahren Haft. Nun, plötzlich im Westen, bricht er auf dem Bahnhof zusammen.

Mit diesem Deal „Freiheit gegen Geld“ begann ein umstrittenes Kapitel in den deutsch-deutschen Beziehungen, geheimnisumwittert. Die einen nannten es Menschenhandel, andere humanitäre Hilfe. Heide-Lore Fritsch hat das Geschenk der Freiheit dankbar angenommen, damals im Frauengefängnis Hoheneck, als am 4. Oktober 1977 der wegen Republikflucht verurteilten Apothekenfacharbeiterin plötzlich „Sachen packen!“ befohlen wurde. „Dann legt man die letzten Habseligkeiten aufs Bett der anderen, verabschiedet sich, und jede hofft, die Nächste zu sein“, sagt sie heute über das Ende der Zeit, die sie doppelt eingemauert hatte.

20 Jahre nach dem Mauerfall berichtet Heide-Lore Fritsch hier zum ersten Mal öffentlich über ihre Haft. Die Behandlung im Knast war so entwürdigend, dass die Erinnerung auch nach über 30 Jahren wie Feuer brennt: „In der Zelle durfte man tagsüber nur mit ärztlicher Erlaubnis auf der Pritsche liegen, sonst musstest du am Tisch sitzen. Socken gab es nur auf Attest. Im Hof mussten wir uns im Kreis bewegen. Wir lagen zu siebzehnt in einer Zelle mit dreistöckigen Betten. Neben mir schlief eine Mörderin, die ihr Kind umgebracht hatte.“ Die politischen Häftlingsfrauen wurden kriminalisiert, waren rechtlos. Der sozialistische Strafvollzug habe die Leute nicht resozialisieren wollen, sondern versucht, die Biografien zu zerstören, sagt Heide-Lore Fritsch. „Der Staat rächte sich dafür, dass man nicht in ihm leben wollte. Mich, die ich nichts getan habe, ließen sie als 22-Jährige 22 Monate lang schmoren. Die Höchststrafe für mich wäre es gewesen, in die DDR entlassen zu werden.“ Glücklicherweise kam es anders. „Wir wurden von Hoheneck nach Karl-Marx- Stadt gebracht, von dort fuhren wir mit dem Bus in den Westen. Endlich frei! Eine unbeschreibliche Freude begleitete meinen Weg in das neue Leben.“

Im alten Leben war sie „ein bisschen widerständig“. Mit 18 trägt sie eine Spritzkanüle, um allen in Pasewalk zu zeigen, dass sie sich nicht den Sozialismus einimpfen lassen wolle. „Ich bin immer etwas neben der Spur gelaufen. Das passte nicht in dieses graue Land.“ Freiheits- und Bewegungsdrang lassen das Mädchen durch alle erreichbaren Länder trampen, Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, aber dann ist Schluss mit der ungestümen Zeit und dem zügellosen Leben. 1973 zieht Heide, wie alle sie nennen, nach Berlin – und bekommt eine Mauerpsychose. Wenn auf dem Ostbahnhof ein Zug nach Paris abfährt, fallen ihr die Lieder von der Seine ein. „Ich schämte mich für die DDR, für die Reisebeschränkungen, die zu 99,6 Prozent gewonnenen Wahlen, für die sozialistischen Spruchbänder, für die Gängelei und die fehlende Pressefreiheit.“

Wer so denkt, muss gehen. Da die Flucht bei zwei Kolleginnen geklappt hat, lässt sich Heide mit einer Freundin aufs Abenteuer Fluchthilfe ein, steigt in ein präpariertes Auto. „In Marienborn wurden wir herausgewinkt, die Fahrerin musste den Kofferraum öffnen. Da lagen wir nun, wie versteinert. Dann haben sie die Klappe wieder zugemacht und uns unserem Schicksal überlassen, bis ein Gefängniswagen kam. Am 13. Dezember 1975 war ich verhaftet worden – bis Weihnachten haben sie meinen Eltern nicht gesagt, wo ich bin.“

Heide wird wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“ und Devisenschmuggels (sie hatte 3000 DDR-Mark und ein paar tschechische Kronen bei sich) zu drei Jahren verurteilt. In ihrer Stasi-Akte liest sie später, was sie zu Protokoll gegeben hatte: „Ich kann mit meiner negativen Einstellung zur DDR nicht in diesem Staat leben. Ich will nicht heucheln, und wenn ich nicht in die BRD entlassen werde, werde ich immer wieder versuchen, auf irgendeinem Wege diesen Staat zu verlassen.“ Seit ihrem Freikauf lebt sie in Charlottenburg, wurde Physiotherapeutin. „Ich hatte gleich das Gefühl: Ich gehöre hierher“, sagt sie. „Meine Vorstellung vom Leben hat sich verwirklicht.“

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