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Ulf-Andre Thur holt Prominente zu Lesungen in die Bibliothek der Jugendarrestanstalt.

© Sven Darmer

Deutscher Lesepreis: „Durch das Lesen passiert etwas im Kopf“

Ulf-Andre Thur holt Prominente zu Lesungen in die Bibliothek der Jugendarrestanstalt – und erreicht damit die Inhaftierten. Für sein Engagement wurde er nun ausgezeichnet.

Vor zwei Jahren war Tim Raue hinter Gittern. Der Berliner Spitzenkoch saß an einem schlichten Tisch, die Sohlen quietschten auf dem rot-braunen Linoleumboden, in den Ecken standen Justizvollzugsbeamte. Raue erzählte von seiner Jugend in Kreuzberg, wie er als Mitglied der berüchtigten Gang „36Boys“ Nasen brach und warum das von seinem heutigen Leben so weit entfernt ist wie die Erde vom Mond.

Er hatte sein Buch dabei: „Ich weiß, was Hunger ist.“ Raue war zu Gast in der Jugendarrestanstalt Berlin-Brandenburg (JAA) am Kirchhainer Damm und seine Zuhörer waren die Arrestierten, knapp 20 Frauen und Männer zwischen 14 und 21. Bei der Verabschiedung sagte Raue zu den Beamten: „Wenn ich heute auch nur einen Jugendlichen erreicht habe, dann hat sich das Ganze wirklich gelohnt.“

Ulf-Andre Thur hat dieser Satz sehr gefallen. Thur, ein stämmiger 50-Jähriger mit markanter Glatze, arbeitet seit 2001 in der JAA als Gruppenbetreuer. Er ist hauptverantwortlich dafür, dass Menschen wie Tim Raue hier rauskommen nach Lichtenrade, um aus ihren Büchern vorzulesen.

Vorlesen statt kochen: Tim Raue
Vorlesen statt kochen: Tim Raue

© privat

Auch Thomas Gottschalk konnte schon als Vorleser gewonnen werden.
Auch Thomas Gottschalk konnte schon als Vorleser gewonnen werden.

© privat

Der frühere Fußball-Nationalspieler Uli Borowka machte 2012 den Anfang und erzählte von seinem Doppelleben als Profi und Alkoholiker, Thomas Gottschalk war da und lieh seinen Zuhörern anschließend für Erinnerungsfotos sein grelles Jackett. Nächste Woche wird der Zeit-Journalist und ehemalige Tagesspiegel-Volontär Mohamed Amjahid sein Buch „Unter Weißen“ vorstellen – schon die elfte Lesung in der Arrestanstalt.

Die prominenten Gäste waren nur ein Grund, warum die Stiftung Lesen Thur stellvertretend für die Arbeit in der JAA für den Deutschen Lesepreis nominierte. Ein mit insgesamt 19 500 Euro dotierter Preis, der „innovative Leseförderungsmaßnahmen“ auszeichnet und genau deshalb saß Thur am Donnerstagabend mit seinen Chefs im Humboldt Carré und lauschte der Laudatio von Moderatorin Bettina Cramer.

Literatur hinter Gittern

Erstaunlich, wie man hinter Gittern mit so wenigen finanziellen Möglichkeiten so eine Bibliotheksauswahl gestalten könne, befand die Jury und kürte Thur in der Kategorie „Herausragendes individuelles Engagement“ auf Platz zwei: 1500 Euro für die stets ausbaufähige Bücherkasse.

Noch vor acht Jahren bestand die Bibliothek der Arrestanstalt aus einem kleinen Raum mit drei Regalen voller Bücher, die die Justizvollzugsbeamten aus ihrem eigenen Bestand aussortiert hatten. Thur blätterte in alten Notenblättern und abgegriffener Sperrmüll-Literatur, die die Berliner sonst in Pappkartons an die Straße stellen. Gemeinsam mit der damaligen Sozialarbeiterin Stefanie Wolff nahm er sich der Sache an, ging zu Verlagen und Autoren, ließ sich von der nahen Gemeindebibliothek Blankenfelde-Mahlow beraten und holte sich Tipps vom Förderverein für Gefangenbüchereien.

Heute steht den Insassen in den drei verschiedenen Wohngruppenbereichen jeweils ein eigener Raum zur Verfügung, der Bestand der Bibliothek ist durch Buchspenden inzwischen so nachhaltig aufgeforstet, dass kein 17-Jähriger mehr zum zerfledderten Notenblatt greifen muss.

Mehr als Lesen

Biografien, Comics, Zeitschriften und Bildbände sind besonders beliebt, aber auch spezifische Literatur über Suchtprobleme oder Rechtsradikalismus, denn wer hier ist, hat seine ganz eigene Geschichte. Mindestens zwei Tage bis maximal vier Wochen bleibt, wer vom Gericht zu kurzzeitigem Freiheitsentzug verurteilt wurde, weil sonstige Erziehungsmaßnahmen nicht mehr greifen und eine Jugendstrafe noch nicht geboten ist.

Schwarzfahrer, Wildfischer, Diebe, Betrüger – Thur und seine Kollegen haben explizit die Aufgabe den Aufenthalt der Jugendlichen erzieherisch zu gestalten. Handys werden am ersten Tag abgenommen und wenn nach 20 Uhr auch die letzte Einzelzelle verschlossen wird, greifen viele Arrestierte zum Buch.

Lesen die denn überhaupt bei euch, wird Thur regelmäßig gefragt. Das tun sie, antwortet er dann. Und fühlt sich bestätigt, wenn er nach der Lesung des Polizisten Cid Jonas Gutenrath einen der Arrestierten sagen hört: „Endlich mal ein cooler Bulle!“

Lesen, sagt Thur, hindert die Jugendlichen nicht daran, weiterhin Dummheiten zu begehen. Einer, mit dem er sich angeregt über Dan Brown unterhalten kann, war jetzt schon dreimal hier. „Aber durch das Lesen passiert etwas im Kopf“, sagt Thur. Und hier, am kurzfristigen Ende von so vielen kleinkriminellen Biografien, ist das doch schon mal ein guter Anfang.

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