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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Mein Berlin: Deutschland hat keinen Platz für Kinder

Nach der Attacke auf einen Erzieher auf einem Spielplatz in Berlin wundert sich Hatice Akyün über Kinderfeindlichkeit und Kindervergötterung in Deutschland und der Türkei.

Ich bin froh, dass bei meiner Tochter neben Spielplatzbesuchen und Musikunterricht auch Einfühlungsvermögen auf dem Stundenplan steht. Wenn in der Kita zum Beispiel ein Kind absichtlich auf eine Ameise tritt, ruft meine Tochter entsetzt: „Man darf Tiere nicht töten. Sie haben eine Mami und einen Papi, und die sind jetzt ganz traurig, weil das Ameisenkind nicht mehr nach Hause kommt.“ Verzeihen Sie mir meine Verweichlichung, aber wenn mir die Erzieherin so etwas über meine Tochter berichtet, trifft es mein Herz.

Mein Herz wird auch getroffen, wenn ich höre, dass in Berlin ein Erzieher auf einem Spielplatz in Anwesenheit von Kindern krankenhausreif geprügelt wird, weil ein Anwohner den Kinderlärm nicht ertragen konnte. Ich möchte Sie bitten, die Ohren Ihrer minderjährigen Kinder kurz zuzuhalten und mir meine entgleisende Sprache gegenüber dem Täter zu verzeihen: „Sie Arschloch, Sie!“

Pauperisierung nennt man die Auflösung sozialer Bindungen, sie verstärkt den gesellschaftlichen Abstieg. Ein Phänomen, das man in Berlin zweifach beobachten kann: Sozial ausgegrenzte und verarmte Menschen, aber auch die Wohlstandsverwahrlosung rücksichtsloser Neubürger, die beim Erwerb einer Altbauimmobilie anscheinend meinen, einen Freibrief für ungehindert ausgelebten Egoismus hinzubekommen zu haben. Zu vergleichen mit dem Glauben der Fahrer gewisser Automarken, die Vorfahrt sei gleich „eingebaut“. Beides bedroht unser soziales Klima. Dem verprügelten Erzieher kann es also egal sein, ob der Täter unfähig oder unwillig war, seine Asozialität abzulegen.

Das Gegenteil von Kinderfeindlichkeit ist Kindervergötterung. Die zeigt sich oft bei Eltern, die im Alter noch einmal den Sinn des Lebens begreifen wollen und den Nachwuchs in Selbstlosigkeit und Fürsorge ertränken. Das Ergebnis sind verzogene, verhätschelte Kinder, denen jegliche Orientierung fehlt.

Tatort. Auf dem Spielplatz der Siedlung zwischen Kottbusser Tor und Admiralstraße wurde ein Erzieher verprügelt.
Tatort. Auf dem Spielplatz der Siedlung zwischen Kottbusser Tor und Admiralstraße wurde ein Erzieher verprügelt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Ein Land, das bei der Geburtenrate Schlusslicht in Europa ist, dürfte es sich nicht leisten, kinderunfreundlich zu sein. Denn nicht die geringe Geburtenrate ist das Problem in Deutschland, nicht generelle Zweifel oder finanzielle Sorgen, ob man sich für ein Kind entscheidet oder nicht, sondern die Kinderfeindlichkeit, mit der Kinder und ihre Eltern überall konfrontiert werden.

Es nervt mich, dass Leute die Unverschämtheit besitzen, sich in Restaurants zu beschweren, weil sie der Kinderlärm stört. Dabei gehöre ich ganz sicher nicht zu den Frauen, die mit dem Kinderwagen die Cafés blockieren, auch sitze ich nicht stundenlang mit anderen Müttern zusammen und lasse mich lautstark über Kinderkrankheiten aus. Trotzdem höre ich diesen Satz immer wieder: „Dass die mit ihren Blagen nicht zu Hause bleiben können.“ Erst im Ausland fällt mir auf, wie selbstverständlich Kinder zum Alltag gehören. Sie dominieren nicht, werden aber auch nicht wie bei uns als störend empfunden. Es muss ja nicht gleich die überzogene türkische Reaktion auf Kinder sein. Türken fallen sich auf der Straße fast um den Hals, weil sie gleichaltrige Kinder haben und dazu aus derselben Provinz in der Türkei stammen. Und wenn Frauen an der Supermarktkasse einem fremden Kind liebevoll in die Wange kneifen, über den Kopf streichen oder Bonbons für sie kaufen, kann es sich nur um eine türkische Mutter handeln.

Elterngeld, frühkindliche Betreuungsangebote, Kitas und Spracherziehung: All diese Bemühungen sind richtig und längst überfällig. Die Geburtenrate wird aber erst dann steigen, wenn Eltern in ihrer Lebensplanung ein Gefühl von Sicherheit haben. Keine Garantien, kein verbriefter Aufstieg, aber eine Gesellschaft, in der Kinder willkommen sind, gelebt und geliebt werden. Oder wie es mein Vater sagen würde: „Abdal dügünden cocuk oyundan usanmaz – der Verrückte bekommt nicht genug vom Feiern, das Kind nicht genug vom Spielen.“

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag.

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