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Nora Pauli in ihrem Büro und Therapieraum im Vivantes Klinikum Spandau.

© Doris Spiekermann-Klaas

Diagnose Krebs: „Nichts ist so schlimm wie die Angst vor der Angst“

Mit der Diagnose Krebs umzugehen ist nicht einfach. Psychoonkologin Nora Pauli unterstützt Patienten bei der „Seelenarbeit“. Ein Gespräch.

Frau Pauli, wie kann man als Patient mit einer so bestürzenden Diagnose wie „Sie haben Krebs“ umgehen?

Es gibt leider keine allgemeingültigen einfachen Tipps, wie man mit einer solchen Nachricht richtig umgeht. Eine Möglichkeit, für sich selbst einen Weg zu finden, ist es, die Erkrankung erst einmal anzunehmen. Und anschließend zu lernen, damit umzugehen. Viele Betroffene schaffen das aus unterschiedlichen Gründen aber nicht. Sie verklären und verleugnen ihre Erkrankung. Das schafft eine Art „Ersatz-Stabilität“, was aber durchaus auch hilfreich sein kann.

Sollte man als Betroffener offen auch mit entfernteren Bekannten oder Arbeitskollegen über seine Krebserkrankung sprechen?

Viele Patienten sind unsicher und ziehen sich zurück. Dabei ist es wichtig, mit seinem Umfeld zu reden und einen normalen Umgang zu pflegen. Indem der betroffene Mensch sich zeigt und nicht versteckt, steht er zu sich selbst. Das gibt ihm seine häufig verloren geglaubte Würde zurück. Die Person, die mit allen Stärken und Schwächen vor Euch steht, ist die, die nun am Leben anders, aber aktiv teilhaben möchte. Es wird Widerstände geben, aber auch positiv überraschende Erlebnisse. Patienten sagen mir oft: Ich habe viele Freunde verloren und einige richtige gefunden!

Wie sollten Angehörige und Freunde damit umgehen? Ist Mitleid falsch?

Es wird leichter und „näher“, wenn sie dazu stehen, dass sie unsicher sind, wie sie mit der Erkrankung ihres Angehörigen oder Freundes umgehen sollen. Es hilft, ehrlich zu fragen, was der Betroffene braucht und wie er unterstützt werden möchte. So führt Unsicherheit nicht zum Rückzug oder zu „gut gemeinten“ aber eher falschen Unterstützungsangeboten. Es mag abgedroschen klingen, aber geteiltes Leid ist in der Tat halbes Leid und kann für einen Moment ein gemeinsames Erleben der Situation und damit Entlastung schenken. Das ist etwas anderes als Mitleid, wo die eigene Betroffenheit im Mittelpunkt steht und den wirklich Betroffenen eher zusätzlich belastet.

Was kann man als Psychoonkologin tun, um Gefühle wie Hilflosigkeit, Trauer und Angst beim Patienten zu verringern?

Viele Patienten erhoffen sich, dass der Therapeut sie von ihren Ängsten und unangenehmen Gefühlen befreit. Sie kommen in die Behandlung und sagen: „Bitte mach, dass dieses Gefühl aufhört!“ Doch gerade diesem Gefühl eine Berechtigung und einen Sinn zu geben, schafft einen anderen Zugang. Nichts ist so schlimm wie die Angst vor der Angst. Diese auszudrücken und wahrzunehmen, ist Grundlage der „Seelenarbeit“ und Beginn der „Heilung“. Die Gefühle verdrängen zu wollen oder darüber wütend zu sein, das bindet Kräfte, die woanders gebraucht werden.

Kommt es vor, dass geheilte Patienten trotzdem dauerhafte negative Veränderungen in ihrer Psyche davontragen?

Der erlebte Kontrollverlust nährt die Angst vor einem Rückfall. Die Sicherheit und das Vertrauen in das Leben sind verloren gegangen. Das ist anfänglich durchaus normal, bis zu dem Zeitpunkt, wenn der positive Krankheitsverlauf es endlich wieder ermöglicht zu glauben: Das Eis trägt. Bei manchen Menschen gelingt das aber nicht und die erlebten Ängste verselbstständigen sich. Dann ist professionelle Hilfe wichtig, um langfristig Störungen zu verhindern. Auch Selbsthilfegruppen können dabei helfen.

Von Stunde zu Stunde wahrnehmen, was möglich ist

Nora Pauli in ihrem Büro und Therapieraum im Vivantes Klinikum Spandau.
Nora Pauli in ihrem Büro und Therapieraum im Vivantes Klinikum Spandau.

© Doris Spiekermann-Klaas

Die Krankheit hinterlässt also Spuren. Wie hilft man Patienten, während und nach dem Krebs wieder ins soziale Umfeld zurückzufinden?

Die Wiedereingliederung in den Alltag ist eine Herausforderung und ist von Mensch zu Mensch sehr verschieden. Das Umfeld erwartet nach einer sogenannten „Heilung“ in der Regel, dass nun alles wieder gut ist und seinen gewohnten Gang geht. Es soll bitte so sein wie früher, alles wieder normal. Die psychischen und auch körperlichen Veränderungen bei denjenigen, die gerade einen schweren Schicksalsschlag verdauen müssen, werden dabei oft übersehen. Das Umfeld räumt dem individuellen „Genesungsprozess“ nicht die Zeit ein, die er braucht. Die Leistungsgesellschaft mit all ihren Anforderungen macht diesen Weg zusätzlich herausfordernd. Es ist wichtig, das vorher zu wissen, nicht aufzugeben und sich gegebenenfalls Hilfe zu holen. Dafür gibt es unter anderem Selbsthilfegruppen, Therapeuten oder auch gute Freunde.

Krebs endet oft tödlich. Wie reagieren Patienten auf die Nachricht, dass es keine Heilung gibt?

Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf solche Mitteilungen, das hängt zum Beispiel ab von ihren Lebenserfahrungen und Lebensstrategien. Einige konfrontieren sich selbst damit und akzeptieren, dass nun die letzte Lebenszeit beginnt. Andere – und das ist die Mehrzahl – verdrängen und negieren die Tatsache, dass es keine Heilung für sie gibt. Das Gefühl, dadurch die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, und eine heftige Angst verhindern, dass man die Situation so annimmt, wie sie ist. Doch das ist fatal, denn der Kampf GEGEN verhindert das Leben FÜR.

Wie kann die Psychologie in solchen Fällen helfen, den Lebensmut bis zum Schluss zu bewahren?

Es ist wichtig, Gestaltungsräume zu entdecken. Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag wahrzunehmen, was möglich ist und sich kleine Ziele zu suchen. Biografie-Arbeit, Sinn-erleben und Spiritualität sind Ressourcen, die dabei helfen können. Ebenso hilfreich sind Übungen zur Entspannung oder entlastende Gespräche. Gerade wenn es der psychoonkologischen Begleitung gelingt, in den Familien Kommunikationswege zu öffnen und einen gemeinsamen Umgang zu suchen, erleben das die Betroffenen als große Unterstützung. Den erkrankten Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, seine Interessen zu formulieren und ihnen Geltung in der medizinischen Betreuung zu verschaffen, sind weitere wichtige Punkte.

In Filmen oder Romanen stellen todkranke Menschen oft Listen mit den Dingen zusammen, die sie unbedingt noch tun möchten. Ist das sinnvoll?

Nein, das sind solche Listen selten, vor allem wenn sie lang und umfangreich sind. Mehr zu machen bedeutet nämlich nicht mehr Lebensqualität. Es erzeugt eher Stress. Besonders dann, wenn wegen der Krankheit die Kraft und die Möglichkeiten schwinden, kann das sehr belasten. Nicht mehr, sondern das Richtige zu machen, das ist wichtig. Es kann viel wertvoller sein herauszufinden, was wirklich wichtig ist, und sich dem neuen Rhythmus anzupassen.

Sie sprechen täglich mit schwer kranken Menschen. Gibt es Patientengeschichten, die Sie als besonders tragisch empfinden?

Bei manchen Patienten können die Symptome nicht ausreichend gebessert werden. Sie haben einen großen Leidensdruck. Alles ist auf die Beschwerden konzentriert und ein Umgang mit dem nahen Ende. Die Möglichkeiten, bewusst Abschied zu nehmen, werden dadurch behindert. Ein nicht erfülltes Leben, in dem die Patienten das Gefühl haben, nicht „satt“ geworden zu sein, macht die Akzeptanz des Lebensendes schwer. Das Empfinden von Ungerechtigkeit und Wut steht dann häufig im Vordergrund. Unerledigtes und Unausgesprochenes können ebenfalls belasten. Das Gefühl, man sei selbst schuld an der Situation und werde nun bestraft, erzeugt Angst vor dem Tod.

Gibt es auch positive Lebensgeschichten?

Als beeindruckend erlebe ich die Abschiede bei den Menschen, die ihr Leben als erfüllt und voll erlebt haben. Auch und gerade dann, wenn es ein anstrengendes Leben war. Manche sind spirituell oder religiös und hoffen über „die Grenze“ hinaus. Dankbarkeit und der Blick auf Positives stehen bei ihnen im Vordergrund. Dankbarkeit ist ein wichtiges Stichwort. Ich bin überzeugt, dass sie bedeutungsvoll für das Leben und Sterben ist. Ich würde jeden Menschen dazu auffordern zu schauen, wofür er in seinem Leben dankbar ist.

Das Interview führte Mariko Dehn. Das Thema „Krebs heilen“ ist der Schwerpunkt der jetzt neu erschienenen Ausgabe 11 des Magazins „Tagesspiegel GESUND“. In dem Heft finden Sie viele Texte, Informationen und Ärzteempfehlungen, wo und wie in Berlin die Erkrankung behandelt werden kann. Das Magazin kostet 6,50 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop unter der Tel. 030- 29021- 520, unter www.tagesspiegel.de/shop und im Zeitschriftenhandel.

Mariko Dehn

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