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Berlin: Diagnosen dechiffrieren

Wie ein Rentner die Stadt erleben kann Im Schummer der Erinnerung an die Zeit vor 15 Jahren gelangt dem Herrn Rentner ein Büchlein in die Hand, das ihn sein Leben lang begleitet hat. Keine Bibel, weder Karl Marx noch Karl May – es ist der „Ausweis für Arbeit und Sozialversicherung“.

Wie ein Rentner die Stadt erleben kann

Im Schummer der Erinnerung an die Zeit vor 15 Jahren gelangt dem Herrn Rentner ein Büchlein in die Hand, das ihn sein Leben lang begleitet hat. Keine Bibel, weder Karl Marx noch Karl May – es ist der „Ausweis für Arbeit und Sozialversicherung“. Jenes grüne Heft, das jedem DDR-Deutschen als offenherzige Personalakte anvertraut wurde, so eine Art Versicherungschipkarte, um deren kompakte Vollständigkeit uns heute, viel zu spät mancher beneidet. Da hatte nämlich jeder seine Arbeit wie sein Siechtum fest im Griff, ohne Papierkram wusste man stets alles: Der Mensch – ein offenes Scheunentor.

Der Ausweis lag in einer Buchhandlung neben der Kasse, und da ihn der Eulenspiegel-Verlag hat drucken lassen, ist diese Variante der Nostalgie nicht so ganz ernst zu nehmen und stellenweise sogar lustig. Das beginnt schon in der Spalte „Berufsausbildung“, wo dem Meliorationstechnikstudenten ein „Ex madrikoliert“ verpasst wird. Als „Qualifizierungsmaßnahmen“ sind „sozialistisch campen, baden und feiern“ vermerkt, der VEB Felsenquell „Ernst Thälmann“ im Kurort Rathen beurkundet einen Einführungskurs in „sozialistisch Klettern und Wandern“. Unter „betriebliche Auszeichnungen“ weist ein Stempel den SV-Ausweisbesitzer als „Mitglied des Kollektivs Täuschen, Tarnen & Verstecken“ aus, hervorragende Spezialkenntnisse werden bescheinigt: „Zement-, Türscharnier- und Ketchuporganisation“.

Komisch wird es bei den Diagnosen für die Krankschreibungen. Da gab es eine „Schlüsselnummer“, die (angeblich) nur der Mediziner entschlüsseln konnte. 501 bedeutete Schnupfen, in Wahrheit aber „Materiallieferung Datsche“, 763 sind böse Halsschmerzen (Handwerker), 628 Rückenschmerzen, nach menschlichem Ermessen jedoch „Apfelernte bei Schwiegereltern“, und wer eine 442 im Ausweis stehen hatte, war ein Pechvogel, denn das hieß: „wirklich krank“. Am Ende haben sie noch den Stempel „Unverträglichkeit“ reingeknallt. Was vertrug man demnach nicht? 1. Urlaubsende. 2. früher Morgen. 3. Wochenende-Ende. – Daraus konnte ja nix werden!

–SV-Ausweis „Das ganze Leben“, 60 Seiten, fünf Euro, Eulenspiegel-Verlag.

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