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Berlin: Die alltägliche Seuche

Auf dem Etikett der Ampulle steht „tgAAC09“ – darin ist ein experimenteller Aidsimpfstoff. In Hamburg laufen die ersten deutschen Tests mit einem Mittel gegen das Virus überhaupt. Wirkt es?

Die Hoffnung wohnt im Keller eines Backsteinhauses am Rand des Hamburger Uniklinikums. „Poliklinik für Infektologie“ steht draußen. Es riecht muffig im Keller. Putz blättert. Der Assistenzarzt geht voraus. Tobias Glaunsinger heißt er, ein großer, dünner, energischer Berliner. Vor einem leise brummenden, mannshohen Kühlschrank bleibt er stehen. Und da drin, im Tiefkühlfach bei minus 20 Grad, liegt das, was Forscher weltweit nicht schlafen lässt. Was helfen soll, Millionen Menschen zu schützen. Kleine Mengen einer farblosen Flüssigkeit. Zehn-Milliliter-Ampullen, weich verpackt in grauen Schaumstoff und zigarettenschachtelgroßen Kartons.

„Wenn alles gut geht, ist das hier eines Tages ein Aids-Impfstoff“, sagt der Arzt.

Noch aber ist die helle Flüssigkeit nur ein Prototyp. Ein Mittel, das erst noch beweisen muss, dass es funktioniert. Nicht einmal einen Namen hat es. „tgAAC09“ steht auf den kleinen Etiketten.

Was hier in Hamburg (und parallel in Bonn) gerade passiert, ist der erste Test mit einem Aids-Impfstoff in Deutschland überhaupt. Seit Februar läuft die Studie. Auftraggeber ist die „International Aids Vaccine Initiative“ (IAVI) mit Sitz in New York, eine Nichtregierungs-Organisation, die sich dem Kampf gegen Aids verschrieben hat. Einige der großen Pharmafirmen hingegen haben sich aus der Impfstoffforschung längst zurückgezogen. Riesenaufwand. Und wenig Ertrag. Denn Hauptkunde wäre die Dritte Welt, und die könnte nicht zahlen für flächendeckende Impfungen. Deshalb finanzieren neben einigen Organisationen vor allem Regierungen die Forschung. USA, Großbritannien, Belgien, die Niederlande – viele machen mit. „Nur Deutschland hält sich raus“, klagt der Leiter der Studie, Jan van Lunzen, als er später kurz hereinschneit ins enge Büro seines Assistenten. „Die Bundesregierung gibt keinen Cent.“

Tatsächlich stelle Deutschland 7,9 Cent pro Bürger zur Verfügung – aber das für die gesamte Aids- und nicht nur für die Impfstoffforschung, sagt Reinhard Kurth, Chef des Berliner Robert Koch-Instituts, an dem Infektionskrankheiten erforscht werden. In den USA dagegen seien es neun Dollar pro Kopf.

Vor Tagen erst hat Tobias Glaunsinger zwei Freiwilligen je eine halbe Ampulle in den Oberarm gespritzt. Es waren die letzten Testpersonen von insgesamt elf für diese Studie: alle zwischen 18 und 30, heterosexuell, keine Fixer, keine Prostituierten – weit entfernt von jeder Risikogruppe eben. Denn erst einmal geht es gar nicht darum, ob der Impfstoff auch schützt. Es geht nur darum, ob der menschliche Organismus ihn verträgt.

Die Ampullen – eine pro Proband plus acht in Reserve – haben einen weiten Weg hinter sich. Sie kommen aus den Labors einer Gentechnikfirma in Seattle. Dort hatten die Wissenschaftler Teile des gefährlichen Erregers nachgebaut und die in einen harmlosen Virus eingesetzt. Der wiederum soll die künstlichen HI-Virusteile dann in menschliche Zellen schleusen.

Überall auf der Welt sitzen Wissenschaftler in Labors und suchen auf solche und ähnliche Weise nach einem Impfstoff gegen Aids. Sie zerstückeln das Erbgut des Virus, ziehen ihm die Hülle ab und schwächen ihn so, dass er nicht mehr krank macht. Diese Virus-Varianten werden dann Ratten oder Affen injiziert, in der Hoffnung, dass ihr Immunsystem an den ungefährlichen Bruchstücken lernt, mit echten Aids-Erregern fertig zu werden. Und manchmal klappt das sogar. Jubel und Erwartung. Dann müssen statt der Affen Menschen ihren Arm hinhalten. Aber: Bisher hat noch kein menschlicher Körper einen ausreichenden Impfschutz entwickelt. Seit über 20 Jahren leben die Forscher mit der Ernüchterung, die der Euphorie entnervend regelmäßig folgt. Tierversuche sind eben nicht so einfach auf den Menschen übertragbar.

Währenddessen infizieren sich immer mehr Menschen. Und sterben. Tobias Glaunsinger setzt sich an den Laptop und holt eine Grafik auf den Schirm. Westeuropa: 2600 - 3400 steht da. Südostasien 330000 - 590000. Afrika 2,4 Millionen. „Die Aids-Toten vom vergangenen Jahr“, sagt er. „Die schlimmste Seuche seit der Pest.“ Wenn er sagt, „da muss man doch was tun“, mit Betonung auf „muss“, dann klingt es nicht wie eine Floskel. Für ihn ist die Seuche Alltag. Aber keiner, an den man sich gewöhnt. Zu ihm kommen täglich Menschen in eine Aidssprechstunde.

„tgAAC09“ sah im Tierversuch gut aus. Im kommenden Sommer wird man wissen, ob es auch verträglich ist. Auf ein Jahr ist die Studie angelegt, und die Probanden müssen sich insgesamt zehn Mal untersuchen lassen. Es sehe aus, als vertrügen sie das Mittel, sagt Studienleiter van Lunzen. Das freue ihn, sicher. Aber bis klar sei, ob „tgAAC09“ auch schützt, gingen noch Jahre ins Land. Immer wieder müssen er und die Kollegen sagen: „Kein Grund zu baldiger Hoffnung.“ Und weil sie so oft von verzweifelten Aids-Infizierten gebeten werden, in die Studie aufgenommen zu werden, müssen sie genauso oft erklären: „Es geht hier nicht um eine Therapie für Aidskranke! Es geht um einen Impfstoff, der Nicht-Infizierte schützen soll.“

Studien wie diese sind kompliziert. Glaunsinger geht zu einem Schrank, holt vier dicke Ordner hervor und knallt sie auf den Tisch. Testergebnisse, Fragebögen, Arbeitsanweisungen, Blutanalysen… Aber wo man meint, es ginge darum, alles ganz genau zu wissen, müssen die Ärzte manchmal die Augen sogar zukneifen. Doppelblind heißt das. Es bedeutet, dass einige Testpersonen nicht den Impfstoff bekommen, sondern ein Placebo. Ohne ihr Wissen. Nicht einmal der Arzt weiß, ob er die echte Substanz in der Spritze hat. So soll jede Beeinflussung vermieden werden. „Nur wenn ein Proband plötzlich schwer krank wird, darf der Chef die versiegelten Umschläge aufreißen, mit den Listen“, sagt Glaunsinger. In Rot steht „Confidential“ drauf. Vertraulich.

Dringt ein Erreger in den Körper ein, den die Immunabwehr noch nicht kennt, dann dauert es, bis alle Abwehrstufen zünden. Glaunsinger erklärt das gerne bildhaft. „Unser Immunsystem funktioniert wie eine Behörde“, sagt er. „Und eine neue Akte muss über viele Tische.“ Fünf bis sechs Tage brauche das Immunsystem. Doch da hat sich das Virus schon so vermehrt, dass das Immunsystem nicht mehr gewinnen kann. Ziel einer Impfung muss also sein, die Körperabwehr sofort nach der Infektion losschlagen zu lassen.

Es dauert, Behörden zu aktivieren. Glaunsinger sagt, er sei Optimist .

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