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Berlin: Die Anruferin vor dem Morgengrauen

Fünf Uhr früh ist keine Zeit: Wo recherchiert werden musste, spielte die Nachtruhe der Informanten keine Rolle

Der Autor war von 1967 bis 1977 Regierender Bürgermeister von Berlin.

Als Brigitte Grunert zum Tagesspiegel kam, war ich nicht mehr im Berliner Amt. Ich hatte mich sozusagen eingereiht in die beachtlich große Zahl ihrer Leser. Der Leserinnen und der Leser also, die relativ unberührt waren von jenem Spannungsverhältnis, das wohl immer existieren wird zwischen aktiver Politik und kritischem Journalismus. Ich war also kein Akteur mehr. Ich war ein Konsument geworden, so gut wie jeder andere auch. Ich konnte jetzt aus einer Lage heraus, die für mich neu und ungewohnt war, all das registrieren, was sie für wichtig hielt. Und ich gestehe gern, daß ich seitdem ihre Kritik an Personen und an den politischen Entscheidungen eigentlich noch mehr teile als vorher.

Mit ihrem Wechsel zum Tagesspiegel hat sich mein Verhältnis zu ihr und zu ihrer Arbeit wesentlich verändert. Nicht auf allen Gebieten, aber es ist doch anders geworden, als es in den Jahren zuvor war. Und das nicht, weil ich nicht mehr im Amt war. Sondern weil Brigitte Grunert die Zeitung gewechselt hat. Dabei war sie auch in den Jahren zuvor schon eine geachtete, manchmal auch gefürchtete „Rathaus- Korrespondentin“. Und sie vertrat im Rathaus Schöneberg eine interessante Berliner Zeitung.

Sie war die Vertreterin der Zeitung „Der Abend“. Es gibt sie nun schon lange nicht mehr. Ein Teppichhändler, Hussein Sabet, hatte in den achtziger Jahren versucht, die Zeitung doch noch am Leben zu halten. Leider vergeblich. Es war ein gutes Blatt. „Der Abend“ hat damals das Leben unserer Stadt Berlin bereichert. Auf seine ganz besondere Weise und mit beachtlichem Niveau. Und nicht zuletzt auch auf Grund der Beiträge von Brigitte Grunert.

Allerdings: „Der Abend“ war – wie der Name schon sagt – eine Mittagszeitung. Redaktionsschluss war am frühen Morgen. Und so war die Redakteurin Brigitte Grunert daher schon früh unterwegs, meistens schon früher als früher Morgen. Es musste ihr darum gehen, alles an Informationen und an Stellungnahmen einzufangen, das gebraucht wurde, um die jeweiligen Tatbestände sinnvoll erläutern zu können. Bei den dafür relevanten Stellen der Stadt, etwa bei der Polizei oder beim Senat oder bei Vergleichbarem.

Es steht für mich auch heute noch außer Zweifel, daß ihre Leistungen schon damals von vielen ehrlich bewundert wurden. Aber nicht jeder, der von ihr morgens um sechs Uhr und früher befragt wurde, war wirklich glücklich darüber, auf ihrer Liste zu stehen und damit für sie interessant zu sein. Im Klartext gesprochen: In jener Zeit war Brigitte Grunert für einige das, was die Engländer ein „pain in the neck“ nennen würden. Langenscheidt´s Englisch-Deutsches Wörterbuch übersetzt diese Redensart mit „Nervensäge“. Das aber war sie nun wieder nicht. Nur: Mit ihren Früh-Recherchen ging sie einigen von ihr besonders Auserwählten eben doch ganz schön auf die Nerven.

So erinnert sich Günter Struve – heute der allmächtige Koordinator des ARD-Fernsehens und damals der Senatspressechef – noch dreißig Jahre später an die fast regelmäßigen Frühtelefonate. Und daran, wie seine Tochter Kirsten zu etwa gleicher Zeit auf ihrem Nachttopf saß, wenn der schier unvermeidbare Anruf kam. Und wie sie – zuerst lustig, dann aber auch kreischend – ausrief: „Grunert – Grunert – Grunert“.

Nun: Meine Patentochter hat keine Schäden davongetragen. Übrigens die anderen Betroffenen auch nicht. Und Brigitte Grunert wird wissen, dass die Welt so ist, wie sie ist. Und dass es einer guten Journalistin nun mal so geht. Wenn sie gründlich und ohne falsche Scheu recherchiert, wenn sie präzis und überzeugend berichtet und – wenn sie einen extrem frühen Redaktionsschluss hat.

Klaus Schütz

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