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Berlin: Die Billig-Jobber

Das absolute Minimum: Immer mehr Berliner finden nur noch Arbeit zu Niedriglöhnen, kritisieren die Gewerkschaften

Als Veit Petre seinen Arbeitskollegen hinter der Theke ablöst, ist der Biergarten schon voller Besucher, die Warteschlange knapp zwei Meter lang. Diejenigen, die schon mehrere Bier intus haben, balancieren den leeren Bierkrug in den Händen, versuchen gerade stehen zu bleiben. Obwohl Petre schnell und geschickt ausschenkt, gleichzeitig mehrere Bestellungen aufnimmt und fast schon blind abkassiert, reißt die Warteschlange nicht ab. Immer neue Kunden treten heran. Viele sind nicht zum ersten Mal hier, grüßen ihn, reichen die Hand.

In seiner oberbayerischen Heimat hatte er die Biergartenbesucher noch als „vulgär und laut“ empfunden, heute verdient er durch sie sein Geld. Eigentlich will Petre Mediziner werden, doch bis er einen Studienplatz hat, muss er sich mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser halten. So wie ihm geht es vielen tausend Berlinern, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) geht davon aus, dass ihre Zahl weiter steigt. Trotz aller Anstrengungen verdienen viele kaum mehr als Hartz IV-Empfänger.

Nach Berechnungen von Claus Schäfer vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung gibt es über 307 000 Niedriglohnbezieher in Berlin. Das sind fast 20 Prozent aller Erwerbstätigen, die einen so genannten Armutslohn unter 75 Prozent des jährlichen Durchschnittsverdienstes von 26 200 Euro erhalten. Zum Vergleich: 1993 waren es Schätzungen zufolge lediglich 15 Prozent der Beschäftigten, die mit einem Niedriglohn auskommen mussten.

Achim Rothe, Arbeitsmarktexperte der Industrie- und Handelskammer Berlin, kann hingegen dem Trend hin zu Niedriglöhnen und Umwandlung der Arbeitsverhältnisse in Minijobs nicht bestätigen: „Aus den Gesprächen und Ergebnissen von Ausschüssen ist dieser Prozess nicht erkennbar.“ Andere Beobachter sprechen von einem „neuen Proletariat“. Oft sind es junge Menschen, die sich von Job zu Job oder Praktikum hangeln. Aber auch erfahrene Arbeiter bis 60 Jahre, die nicht von staatlicher Unterstützung leben wollen, sehen sich angesichts der hohen Arbeitslosigkeit gezwungen, für einen Stundenlohn ab drei Euro brutto zu arbeiten; nicht selten bei Arbeitszeiten von zehn bis 14 Stunden.

Veit Petre schafft es so auf einen Monatsverdienst von um die 800 Euro, mit dem er gerade über die Runden kommt. Das ist nicht viel mehr als das, was er als Hartz-IV-Empfänger beziehen würde. Wenn er alle Freibeträge für Nebenverdienste ausnutzen würde, könnte er als Bezieher des Arbeitslosengeldes II mit einem 400-Euro-Minijob sogar auf 851 Euro im Monat kommen.

An seinen ersten Job kann sich Petre noch genau erinnern: In einem Loft musste er auf Provisionsbasis Telefonbücher durchwälzen und den Angerufenen Druckerpatronen verkaufen. „Es war deprimierend. Konntest du nach einem Telefonat keinen Verkauf verzeichnen, wurdest du vom Büroleiter ausgeschimpft“, erzählt er. Wer in der Welt der Niedrig- löhne gegen unfaire Behandlung protestiert, so Petres Erfahrung, ist seinen Job schnell wieder los. Aufbegehren werde mit Rausschmiss quittiert.

Besonders unter Druck gesetzt fühlte sich Petre, als er bei einer Zeitarbeitsfirma einen Leiharbeitsvertrag mit einem Stundenlohn von 5,60 Euro brutto unterschrieb. Er sollte Briefe für einen Postdienstleister sortieren, wobei es dem Arbeitgeber gestattet war, „den Mitarbeiter vorübergehend mit weniger qualifizierten Arbeiten zu beauftragen“. „Mit dieser Unterschrift gab ich meine Bürgerrechte ab“, sagt Petre. Über die Nachtschicht von 19 bis sieben Uhr und der Sechs-Tage-Woche wurde er erst während der Einarbeitung informiert. Es folgten Jobs als Grillwurstverkäufer, Handwerker und Hausmeister, Security und als Servicekraft bei Caterings.

Nach Schätzungen des DGB arbeiten bundesweit über zwei Millionen Menschen im Niedriglohnsektor. Der Berliner DGB-Sprecher Dieter Pienkny sieht in der Region starke Zuwächse beim „Jobhopping“. „Eine Trendgeschichte, die kaum quantifizierbar ist“, so Pienkny. Zu den Gründen zählen neben der hohen Arbeitslosigkeit die Konkurrenz aus Osteuropa. „Zudem nehmen Unternehmen Lohnsubventionen zum Anlass, Lohnsenkungen durchzuführen, da sich der Arbeiter den Rest ja von der Agentur für Arbeit holen kann,“ so Verdi-Sprecher Jan Jurczyk.

Aus Sicht der Arbeitgeber gibt es keinen Trend vom Hochlohnland zum Niedriglohnsektor. Außerdem böten die Minijobs auch Vorteile: „Für Personen mit geringer Produktivität und Arbeitslose sind sie eine große Chance, um so in ein stabiles Beschäftigungsverhältnis zurückzukehren“, sagt Ilke Houben, Arbeitsmarktexpertin der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.

Für Veit Petre kommt der Bezug Arbeitslosengeld II nicht in Frage. Er will weiter auf den Bescheid der Uni warten und sich mit Jobs durchschlagen. Die Studienfinanzierung wird nicht leicht, aber ein Abschluss würde neue Perspektiven eröffnen. Sechs Jahre bleiben ihm noch, dann wird er 30. „Dann bist du sogar für die Drecksarbeiten zu alt“, sagt er.

Oliver Jesgulke

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