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Berlin: Die Bonbons im Gefängnishof von Siva

Erzählen Sie uns eine Geschichte vom Zuckerfest, haben wir Seyran Ates gebeten. Hier ist sie

Du fragst mich nach einer Geschichte zum Zuckerfest. Da kann ich dir eine ganz besondere Geschichte erzählen. Sie ist traurig und dennoch sehr schön. Zum Zuckerfest erinnere ich mich immer an diese Geschichte. Du weißt, dass unsere Familie alevitische Kurden sind und wir eigentlich das Zuckerfest nicht feiern. Und du weißt auch, dass einige von uns alevitische und sunnitische Traditionen mischen. Deshalb ist das Zuckerfest auch für uns etwas Besonderes.

Es war das Jahr 1988 in Sivas in der Türkei. Meine jüngere Schwester Melek, 17 Jahre alt, wurde verhaftet, weil sie angeblich zwei Soldaten getötet haben sollte. Sie saß schon drei Monate im alten Frauengefängnis von Sivas in Untersuchungshaft, als Zuckerfest nahte. Das Gefängnis war fürchterlich. Du kannst dir vorstellen, wie alt und dreckig es war. Jetzt gibt es ein neues Gefängnis, das ein wenig besser ist. Wenn Gefängnisse überhaupt gut sein können, vor allem für politische Gefangene.

Zum Zuckerfest gab es damals eine besondere Regelung: Die Gefangenen durften an drei aufeinander folgenden Tagen – solange wie die Feiertage andauerten – täglich zwei Stunden Verwandtenbesuche empfangen. Das war riesig. Denn ansonsten gab es nur ein Mal die Woche für zehn Minuten eine Besuchserlaubnis.

Wir verabredeten in der Familie, dass ich Melek als Erste besuchen sollte. Ich entschied mich, drei von meinen Kindern und drei Nichten und Neffen mitzunehmen. Melek liebte die Kinder und würde sich freuen, sie zu sehen, dachten wir. An den anderen Besuchstagen konnten wir die Kinder nicht mitnehmen.

Ich überlegte die ganze Nacht, was ich ihr zum Zuckerfest mitbringen könnte. Geschenke oder Blumen waren natürlich nicht erlaubt, aber ich wusste, dass sie Bonbons, die ganz speziellen Zuckerfestbonbons, die in der Türkei extra zum Zuckerfest hergestellt werden, liebte. Sie werden in wunderschönes buntes Papier gewickelt und schmecken göttlich, wie andere Bonbons nie schmecken können. Sie heißen „Bayramsekeri“, „Festbonbons“, und haben viele Geschmacksrichtungen. Ich beschloss, ein ganzes Kilo zu kaufen und sie den Kindern in die Hosentaschen zu stecken. Kinder wurden nicht kontrolliert. So könnten wir die Bonbons vielleicht hineinschmuggeln.

Die Kinder fanden die Idee genial und sagten, dann sammeln wir noch mehr Bonbons für Tante Melek. Sie liefen los und klingelten bei allen Nachbarn und Verwandten und küssten den Älteren zum Fest die Hände und bekamen dafür Bonbons geschenkt. Jedes Kind kam mit einer zusätzlichen Handvoll Bonbons zurück.

Den ganzen Weg auf dem Pferdewagen zum Gefängnis wetteiferten die Kinder, wer Melek zuerst die Bonbons geben würde. Als wir aber vor dem Furcht erregenden Gebäude standen und die Gendarmen sahen, bekamen sie große Angst. Mein achtjähriger Sohn Tamer weinte und sagte: „Was machen wir, wenn sie die Bonbons entdecken? Hätte ich die Bonbons doch zu Hause gelassen!“

Die Wachfrauen schrien mich an: „Sind das alles deine Kinder?“ Ich schrie zurück: „Ja, das sind alles meine Kinder!“ Dann schrie ein Wachmann, wir sollten uns in einer Reihe aufstellen. Die Kinder stellten sich hinter mich. Meine sechsjährige Tochter Aylin umarmte mich ganz eng, die anderen klebten ebenfalls jeweils an dem vorderen Kind.

Je weiter wir in das Gebäude gelangten, desto stiller wurden die Kinder. Sie trotteten mir hinterher. Wir mussten durch einen schmalen Gang bis zur nächsten Tür. Dort wurde ich gründlich durchsucht. Die Kinder nicht. Wir mussten warten und bekamen alle immer mehr Angst. Eine Wachfrau schaute so böse, dass wir dachten, sie hätte etwas gesehen. Dann ging die Tür endlich auf und ein Wachmann herrschte uns an, dass wir uns schnell bewegen sollen. Als wir durch waren, wurde ich wieder durchsucht. Der Wachmann rief zwei Soldaten mit Maschinenpistolen zu, dass sie uns in den Hof bringen sollten. Der Besuch am Zuckerfest fand im Hof statt. Nicht wie sonst in dem kleinen Besucherzimmer, wo man sich nur durch ein kleines Gitterfenster sehen konnte.

Als wir im Hof standen, schrie ein Wachmann nach oben: „Melek, komm runter, du hast Besuch!“ Melek schaute aus dem Fenster und rief „Juhhuuu!“. Mein Sohn Tamer weinte und fragte, warum wir Melek an solch einem schrecklichen Ort besuchten, warum man sie hier festhielt? Er weinte, alle anderen waren mucksmäuschenstill. Wir sahen, wie Melek die Stufen runter- sprang. Sie rannte auf die Kinder zu und umarmte sie alle gleichzeitig. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich sie aussah. Und doch sah ich die Folter, der sie drei Monate lang ausgesetzt war. Sie hatten versucht, sie zu einem Geständnis zu bewegen. Und sie würden es noch weitere drei Monate tun, was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste.

Die Kinder blickten immer wieder zu mir, in Erwartung, dass ich das Zeichen geben würde, damit sie Melek endlich die Bonbons geben könnten. Überall standen Gefangene, Frauen, mit ihren Verwandten , ein Stimmengewirr. Sie saßen auf dem Boden, angelehnt an den Wänden der Gebäude. An allen Ecken standen Soldaten mit Maschinengewehren. Melek nahm den weinenden Tamer auf den Arm und lief mit ihm los, um ihn zu beruhigen. Wir liefen alle hinterher. Ich hatte große Angst, dass die Bonbons aus seiner Tasche fallen und die Soldaten sie sehen könnten. Es gab Strafen dafür, wenn man etwas reinschmuggelte.

Schließlich suchten wir uns eine etwas ruhigere Ecke und ich flüsterte ihr zu: „Melek, weißt du, was wir dir mitgebracht haben?“ Sie erschrak und sagte: „Ihr dürft doch nichts mitbringen!“ Ich sagte: „Greif doch mal bitte in die Hosentaschen der Kinder!“ Sie fasste in eine der Hosentaschen und schrie vor lauter Freude so laut, dass alle anderen Leute auf dem Hof sich nach uns umdrehten.

Die Kinder waren nun nicht mehr zu bremsen. Sie übergaben alle Bonbons. Melek stopfte alle Hosentaschen voll. Und steckte sich ein Bonbon nach dem anderen in den Mund. Einige schmolzen schnell dahin, andere biss sie schnell klein. Plötzlich schaute sie zu einer Gruppe, die ganz in unserer Nähe war, rief den Namen einer Frau und warf ein Bonbon rüber. Sie rief: „Tu es sofort in den Mund und wirf das Papier weg!“ Dann warf sie in die andere Richtung. Die Frauen riefen, wo kommen die Bonbons her? Melek schrie: „Es ist doch Zuckerfest!“

Die Soldaten konnten gar nicht so schnell gucken, wie sie warf. Sie versuchten herauszubekommen, von wo die Bonbons kamen und blickten sich hektisch um. Dann wurde Melek übermütig und warf ein Bonbon zu einem Soldaten und schrie: „Nimm es schnell in den Mund und wirf das Papier weg!“ Der fing das Bonbon und tat reflexartig genau das, was Melek gesagt hatte. Sowohl das eine Kilo, das ich eingekauft hatte, als auch die Bonbons, die die Kinder gesammelt hatten, waren im Nu verteilt, an alle Gefangenen, Besucher und Soldaten. Alle lachten, alle waren glücklich wie kleine Kinder. Sie schmissen das Bonbonpapier in die Luft und tanzten dazu. Es war ein Fest, das Zuckerfest.

Kaum waren alle Bonbons gegessen, kamen die Wachleute und schrien: „Wo kommen die Bonbons her, woher habt ihr diese Bonbons?“ Niemand sagte etwas. Sogar die Soldaten schwiegen. Der ganze Hof war voll mit buntem Bonbonpapier. Wütend gingen sie wieder weg. Den Rest der Besuchszeit verbrachten alle damit, darüber zu spekulieren, wie die Bonbons in den Hof gelangt waren. Niemand sprach mehr über Probleme, sondern über geschmuggelte süße Bonbons.

Als wir am Ausgang waren, wurde ich gefragt, ob ich die Bonbons mitgebracht hätte. Von Meleks Mut angesteckt sagte ich: „Ja, ich habe die Bonbons gebracht, was willst du jetzt machen?“ Die Wachfrau wedelte mit der Peitsche in ihrer Hand und sagte: „Pass auf, ich kann dich genauso wie deine Schwester ins Gefängnis stecken!“ und durchsuchte mich. Ich sah, wie die Kinder zitterten. Sie hatten Angst, dass ich jetzt auch eingesperrt werde. Die Wachfrau schaute mich aber nur noch hasserfüllt an und sagte, dass ich schnell verschwinden solle.

Wir gingen raus und atmeten auf. Wir hatten es geschafft! Wir fielen uns in die Arme und liefen so schnell wir konnten nach Hause. Zu Hause gab es für die Kinder ganz viele Bonbons. Denn es war ihr Fest, das Zuckerfest. Nach drei Monaten stellte sich heraus, dass Melek unschuldig war. Sie wurde freigelassen. Aber das ist eine andere Geschichte, eine viel zu traurige Geschichte für das Zuckerfest.

Die ungekürzte Fassung der Geschichte finden Sie unter www.tagesspiegel.de/erzaehlwettbewerb. Weitere Fest-Geschichten erscheinen in den kommenden Wochen in unregelmäßiger Folge.

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