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Berlin: Die Diabetes-Nanny

Sie sind erst zehn oder jünger, aber sie müssen sich schon Spritzen geben, Süßes meiden und Diät halten. Immer mehr Kinder sind zuckerkrank – ein neues Projekt will den Familien das Leben erleichtern

Immer wieder dieser quälende Durst, das Gefühl, aufs Klo zu müssen, die Müdigkeit. Das kleine Gesichtchen ganz fahl. George ist schlapp, nimmt stark ab und hat auf nichts Lust. Die Familie geht schließlich zum Arzt. Die Diagnose, ein Schock: George, zwei Jahre alt, ist zuckerkrank, er hat Diabetes mellitus Typ1, eine unheilbare Krankheit. Was das bedeutet, die Familie begreift es an diesem Tag noch nicht. Nach Georges Entlassung aus der Klinik wird sie Unterstützung brauchen. Und George hat Glück: Er bekommt Besuch von einer Diabetes-Nanny.

Die Stiftung „Dianino“ aus Friedrichshafen, die sich über Spenden finanziert, hat diese Idee im letzten Jahr entwickelt. Seitdem setzt sie rund 30 Nannies ein – bisher nur in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, aber ein bundesweites Angebot mit bis zu 20 Nannies pro Land ist das Fernziel. Und: Ab Herbst ist „Dianino“ auch in Berlin. Zwei Förderer sind schon gefunden, weitere werden gesucht, und auch der Leiter der Kinderdiabetiker- Ambulanz der Charité, Klemens Raile, kann sich eine Zusammenarbeit vorstellen. So könnten Krankenschwestern oder Diätassistentinnen der Klinik für zusätzliche Einsätze als Nannies von „Dianino“ finanziert werden. Ein vierwöchiger Einsatz, bei dem die Nanny ein- bis zweimal pro Woche die Familien aufsucht, kostet rund 500 Euro; die Familien bezahlen jedoch nichts. „Als Nannies können auch betroffene Eltern arbeiten“, sagt „Dianino“-Gründerin Ingrid Pfaff. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie ist selbst Mutter eines diabeteskranken Sohnes.

Die Diagnose Diabetes verändert das Leben von Kindern radikal. Diabetes mellitus ist eine chronische Stoffwechselerkrankung, bei der zwei Typen unterschieden werden: Beim Typ-1-Diabetes wird kein Insulin mehr produziert – jenes in der Bauchspeicheldrüse gebildete Hormon also, das den Blutzuckerspiegel senkt, indem es den Zucker aus dem Blut in die Zellen drängt. Plötzlich fehlt es dem Körper vollständig. Bei Typ 2 ist Insulin zwar vorhanden, kann aber an seinem Zielort, den Zellmembranen, nicht richtig wirken. Als Folge steigt bei beiden Formen der Zuckerspiegel im Blut an. Wird Diabetes durch Insulin nicht behandelt, drohen Spätschäden, etwa an Augen und Nieren.

Wie viele Einstiche verträgt ein unbeschwertes Kinderleben? Manche zuckerkranken Kinder müssen sich bis zu ihrem 15. Lebensjahr 27 000 Insulinspritzen geben. Sie verheimlichen die Krankheit vor Freunden, weil sie sich genieren. Die Eltern leben ständig in der Angst, etwas falsch zu machen, und sind übervorsichtig. Es dauert, bis die Handgriffe Routine werden. Bei jeder Mahlzeit werden die Kohlenhydrate, also zuckerhaltigen Lebensmittel, „gezählt“, dann muss die benötigte Menge an Insulin berechnet werden. Disziplin fordert die Krankheit. „Spontaneität, eigentlich ja das Kennzeichen der Kindheit, geht verloren“, sagt der Kinderpsychologe Béla Bartus, der für „Dianino“ die Nannies auf ihre Einsätze vorbereitet.

Den medizinischen Umgang mit Diabetes lernen die Betroffenen in der Klinik. Ein, zwei Wochen lang werden sie nach Diagnosestellung stationär geschult. Aber nach dieser Erstbetreuung müssen die Familien allein zurechtkommen. Und im Alltag wird es schwierig. „Erklären Sie mal einem Kind, warum es auf Schokolade besser verzichtet und dass es sich bis zu fünf Mal am Tag spritzen lassen muss“, sagt die Diabetes-Nanny Monika Jamnig. Man müsse ihm verdeutlichen, dass es trotz Krankheit so weiterleben könne wie bisher – aber eben nur, wenn es sich an die Regeln halte. Manchmal komme man jedoch mit Diskutieren nicht weiter. „Gerade Kleinkinder haben Angst vor Spritzen. Die Eltern müssen lernen, ihnen nicht alles durchgehen zu lassen.“

Die sei schon im Normalfall nicht einfach. Bei George kam erschwerend hinzu, dass seine russischen Großeltern die Erziehung an sich gezogen hatten. Die junge Mutter hielten sie für überfordert. „Die Oma hat die Krankheit nicht akzeptiert, sie hat dem Jungen einfach weiter Cola und Brot gegeben, ohne zu berechnen. Auch die lebensnotwendigen Spritzen lehnte sie ab“, erzählt Jamnig. Ihre Aufgabe war es nun, das Selbstbewusstsein der Mutter zu stärken, damit sie die Behandlung selbst vornahm. Andere Nanny-Jobs können Gespräche mit Kindergarten und Schule sein, um Vorurteile abzubauen; und manchmal springen die Betreuerinnen ein, wenn sich erschöpfte Eltern eine Auszeit nehmen wollen.

In den letzten zehn bis zwanzig Jahren hat sich die Zahl zuckerkranker Kinder in Deutschland verdoppelt, sagt Deutschlands führender Kinderdiabetesexperte, Thomas Danne, Leiter des Diabetes-Zentrums am Kinderkrankenhaus auf der Bult in Hannover. Über die Ursachen ist man sich noch nicht klar. Manche vermuten, dass paradoxerweise die verbesserte Hygiene schuld sei. „Die Körperabwehrzellen richten sich vermehrt gegen die insulinproduzierenden Zellen, da sie nicht mehr so mit dem Schmutz beschäftigt sind“, sagt Danne; da lässt sich eine Parallele zum Anstieg von Allergien in Industrienationen herstellen.

25 000 kleine Zuckerkranke gibt es in ganz Deutschland. Allein in Berlin sind nach Angaben der Selbsthilfegruppe „Bundesweite Fördergemeinschaft junger Diabetiker“ schon rund 800 Kinder an Typ 1 erkrankt. Pro Jahr kommen etwa 75 Patienten hinzu. Und seit ein paar Jahren – parallel zum wachsenden Problem der fettleibigen Kinder – erkranken die Kleinen auch am Typ 2, der einmal als Altersdiabetes bezeichnet wurde. Diese Variante tritt meist bei extrem übergewichtigen Menschen auf. Das hohe Gewicht überfordert die Bauchspeicheldrüse, die auch das Insulin bilden muss. Der Charité-Arzt Klemens Raile betreut derzeit 20 Patienten. „Es gibt aber wahrscheinlich viel mehr.“ Denn die Symptome sind nicht so deutlich wie bei Typ 1, „und wir entdecken die Erkrankung nur, weil wir gezielt danach suchen.“

Anders als bei Typ 1 reichen eine Diät und mehr Bewegung oft aus. Doch gerade in zerrütteten Familien kennen die Kinder so etwas wie geregelte Mahlzeiten gar nicht, sagt Raile, „sie schauen stundenlang fern und bewegen sich kaum“. Wenn die Eltern einen Verdacht haben, sollten sie aber sofort den Arzt aufsuchen. Gerade bei Kleinkindern kann es schnell ein Notfall werden: „Bekommen sie kein Insulin, übersäuert der Körper. Sie könnten ins Koma fallen.“

„Dianino“ würde eine Lücke schließen, sagt der Arzt: „Gleich nachdem die Kinder bei uns entlassen werden, könnten die Nannies übernehmen.“ Gerade die psychosozialen Probleme seien nicht zu unterschätzen. Die Familien müssten schnell viel lernen, aber nicht immer hätten sie damit die Krankheit auch akzeptiert. Und vor allem bei Teenagern müsse man darauf achten, dass sie sich nicht um die täglichen Spritzen herumdrückten. Nanny Jamnig rät zu einem einfachen Atemtest: „Ist der Blutzuckerspiegel zu hoch, riecht man aus dem Mund. An diesem süßlichen Acetongeruch merke ich gleich, wenn etwas nicht stimmt.“

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