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Berlin: Die Dialektik der Liebe

SONNTAGS UM ZEHN Von Claudia Keller Als Jesus vor 2000 Jahren in Jerusalem einzog, konnten viele Jerusalemer gar nicht an sich halten vor lauter Freude. Sie brachen Zweige von den Palmbüschen ab und jubelten ihm damit zu.

SONNTAGS UM ZEHN

Von Claudia Keller

Als Jesus vor 2000 Jahren in Jerusalem einzog, konnten viele Jerusalemer gar nicht an sich halten vor lauter Freude. Sie brachen Zweige von den Palmbüschen ab und jubelten ihm damit zu. Der „Palmsonntag“ eine Woche vor Ostern erinnert daran.

Kurze Zeit später hatten sich die Jerusalemer dann allerdings schon wieder von Jesus abgewandt, hatten ihn verraten und forderten seinen Tod. Vom triumphalen Einzug des Gottessohnes in die Stadt bis zu seinem Tod am Kreuz dauerte es nicht lange.

Jubel und Verrat, Glück und Schmerz liegen oft dicht beieinander. Nicht nur bei Jesus. „Ein Leben ohne Leiden gibt es für niemanden von uns“, sagt Pfarrer Hans-Joachim Birkhahn, zieht die Augenbrauen hoch und schaut seine Gemeinde in der katholischen Kirche St. Antonius in Friedrichshain eindringlich an. Zuvor hatten der Diakon und zwei ehrenamtliche Vorleser die Passionsgeschichte vorgetragen, so wie sie der Evangelist Markus aufgeschrieben hat.

„Die Leidensgeschichte Jesu entlarvt die moderne Ideologie eines Lebens ohne Leiden als Lüge“, sagt Pfarrer Birkhahn. Das Wort „Lüge“ betont er laut und trotzig. Als wolle er beweisen, dass es ihm um etwas gehe, dass seine Predigt mehr sei als Ritual. Birkhahn will mit seinen Sätzen an den hundert Gläubigen vor ihm rütteln, er will sie davon abbringen, nur das Schöne, Gesunde und Leistungsstarke zu bewundern und zu lieben. Mit einem Schwenk auf die Bioethik-Diskussion sagt er: „Am Horizont leuchtet der Mensch ohne Behinderung auf, ein Leben ohne Krankheit.“ Natürlich bringe die moderne Medizin Erleichterung, aber ein Leben gänzlich ohne Schmerzen sei Illusion. Ein solches Ideal schließe die aus, die krank, verletzlich und eben nicht so leistungsstark seien – „die Mehrheit also“. Und außerdem könne nur der das Glück voll begreifen, der zuvor gelitten habe. „Das Leiden Jesu war der Durchgang zur Herrlichkeit der Auferstehung“. Leiden auf dem Weg der Liebe sei unausweichlich.

Mit dem Palmsonntag beginnt die Heilige Woche, die Karwoche. Sie ist der Höhepunkt des christlichen Kirchenjahres. Denn in keiner Religion muss man so viel leiden und ertragen wie bei den Christen, um am Ende glücklich zu sein. Aber auch keine andere Religion hat entdeckt, wie viel Kraft und wie viel Macht im Schwachsein steckt.

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