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Raed Saleh will ganz nach oben, aber dafür braucht er die Berliner SPD.

© dpa

Die drei SPD-Kandidaten und ihr Programm (I): Raed Saleh: Berlin hat sich mit seiner Liberalität verirrt

Raed Saleh will Regierender Bürgermeister werden. Er meint: Zu oft wird in Berlin weggeschaut, weil man tolerant sein will. Das aber ist nicht cool. Denn vielen Jugendlichen fehlt der Glaube an sich selbst. Um das zu ändern, braucht es Hilfe - und Konsequenz. Ein Gastbeitrag.

Manchmal, wenn ich innerhalb weniger Tagen mit vielen spannenden Personen in fünf oder sechs Bezirken gesprochen habe, denke ich mir: Eigentlich gibt es das gar nicht, dieses eine Berlin. Es gibt viele Berlins, die sich manchmal überschneiden. Es gibt viel Nebeneinander, viel Parallelwelt. Fragt man zum Beispiel eine Kreuzbergerin, wann sie das letzte Mal in Marzahn war, lautet die Antwort meistens: Lange her. Umgekehrt gilt das auch. Es ist erstaunlich, wie selten Berliner andere Stadtteile besuchen – und trotzdem scheint jeder genau zu wissen, wie es dort aussieht.

Zwar ist dieser Eindruck weder neu, noch gibt er Anlass zur Sorge. Berlin war immer eine Stadt der Kieze, die Leute fühlen sich in ihrer Straße wohl, überlassen den Berlin-Mitte-Stress den Touristen. Das ist normal. Trauriger ist es schon, wenn die Leute ihre Nachbarn im Haus nicht mehr kennen, womöglich nicht einmal grüßen. Gerade viele Bürger aus dem Ostteil der Stadt erzählen mir mit Wehmut, dass das früher mal anders war.

Doch es gibt noch eine andere Dimension des Nebeneinanders, die mir Sorgen macht: Es sind bei uns ein paar Selbstverständlichkeiten des Zusammenlebens in einer Großstadt verloren gegangen. Das wurde mir bewusst, als aus mir – dem linken Sozialdemokraten Raed Saleh – angeblich ein Hardliner wurde. Das passierte am 10. April 2014. Im Parlament besprachen wir eine Regierungserklärung zum Thema Oranienplatz. Ich hielt eine ziemlich linke Rede: Man solle den Menschen helfen und Unterbringungen suchen. Die Residenzpflicht solle man abschaffen. Es müsse ein Bleiberecht nach Kettenduldungen geben, damit Flüchtlinge sich integrieren. Die Kinder von Flüchtlingen müssen einen Kita-Platz haben. Außerdem sagte ich, dass die öffentlichen Plätze allen Berlinerinnen und Berlinern gehören – und es daher ein Fehler war, das Camp zu dulden.

Vielleicht hat sich Berlin mit seiner Liberalität etwas verirrt

Aus Sicht der allermeisten Leute waren das selbstverständliche Aussagen. Nur war das Selbstverständliche schon zu lange nicht mehr befolgt worden. Vielleicht hatte sich Berlin mit seiner Liberalität etwas verirrt. Statt zu guter Nachbarschaft führt Toleranz heute leider oft zu Gleichgültigkeit. Wegschauen und Vereinfachen lösen aber keine Probleme. Ignoranz mündet letztlich in Ausgrenzung.

Das zeigte sich auch im Sommer 2013 in Hellersdorf. Wieder ging es um das Thema Flüchtlinge. Es hatte – provoziert von Rechtsextremen – eine ausufernde Bürgerversammlung und unsägliche Proteste gegen ein geplantes Flüchtlingsheim gegeben. Nur zum geringsten Teil waren Anwohner selbst dabei. Trotzdem mussten die Hellersdorfer einige Tage lang Vergleiche mit den schweren und sehr gewalttätigen Ausschreitungen von Lichtenhagen 1992 über sich ergehen lassen – ohne, dass es auch nur annähernd zu ähnlichen Gewaltausbrüchen gekommen war. Aber die Formel Plattenbau plus soziale Probleme plus Flüchtlinge reichte aus. Das fand ich unfair und sagte: Die Rechten sind in Hellersdorf eine kleine Minderheit, die übergroße Mehrheit der Anwohnerinnen und Anwohner sind demokratisch und tolerant. Das Hellersdorfer Ergebnis der Bundestagswahl bewies dann meine Aussage.

In beiden Fällen – beim Oranienplatz wie in Hellersdorf – ging es mir darum, dass man soziale Räume nicht einfach ausgrenzt, weil es so schön einfach ist. Wer die Flüchtlinge am Oranienplatz schlicht sich selbst überlässt, grenzt aus. Wer Hellersdorf mit Lichtenhagen vergleicht, grenzt aus. Eine Politik für ganz Berlin zu machen heißt, nach dem Gemeinsamen zu suchen. Wir müssen in der Stadtpolitik wieder öfter nach echten Lösungen suchen anstatt Probleme zu ignorieren.

Das Hauptthema sollte nicht Gewalt von der Polizei sein – sondern Gewalt gegen die Polizei

Raed Saleh will ganz nach oben, aber dafür braucht er die Berliner SPD.
Raed Saleh will ganz nach oben, aber dafür braucht er die Berliner SPD.

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Ein gutes Beispiel dafür ist die permanente Kritik an der Berliner Polizei. Normale Einsätze werden zu oft als Polizeigewalt bezeichnet – inklusive Anhörung im Rechtsausschuss, natürlich erst, nachdem die Grünen sich schon vorher ein empörtes Urteil gebildet haben. Selbstverständlich muss man Fälle von Polizeigewalt ernst nehmen. Doch das Hauptthema sollte ein ganz anderes sein: Nicht Gewalt von der Polizei – sondern Gewalt gegen die Polizei. Angriffe auf Polizisten sind nämlich in Berlin an der Tagesordnung. Immer öfter wird versucht, von der Polizei festgesetzte Personen zu befreien. Platzverweise werden nicht beachtet. Mir sagte ein Polizeianwärter bei einem Besuch der Polizeischule vorletzten Sommer, dass er sogar schon auf dem Schulhof von Grundschulkindern mit Kastanien beworfen wird. Das zeigt, wie manche Elternhäuser denken. Denn das Verhalten der Knirpse spiegelt immer auch die Erziehung wieder, die sie zuhause bekommen – oder auch nicht bekommen.

Ich finde es selbstverständlich, zu sagen: Berlin ist eine der sichersten Metropolen Europas. Danke, liebe Frauen und Männer in Blau. Wenn ihr etwas braucht, dann kümmern wir uns so gut wie möglich. Was die Besoldung angeht, haben wir mit der schrittweisen Angleichung an das Bundesniveau damit angefangen. Bei manchen Ausstattungsfragen müssen wir noch besser werden. Diese Selbstverständlichkeit, mit der wir ein respektvolles und gerechtes Zusammenleben organisieren, brauchen wir wieder mehr. Ein Beispiel: So etwas wie eine Scharia-Polizei sollte man in Berlin möglichst schon präventiv unterbinden. Wir sollten prüfen, ob man in Berlin die rechtliche Handhabe gegen solche undemokratischen Auswüchse verbessern muss, etwa durch ein Verbot von repressiven religiösen Aktivitäten in öffentlichen Räumen. Nach dem Motto: Für Religion werben darf jeder, Religion ausüben darf jeder. Aber religiöse Verbote aussprechen darf man – wenn überhaupt – nur in sakralen Innenräumen. Bevor mich gleich jemand als Populist beschimpft: Damit würden wir vor allem säkulare Muslime schützen, gerade junge muslimische Frauen.

Übrigens: Die größten und wichtigsten muslimischen Verbände unterstützen einen solchen Weg. Die radikalen Ideologen – ob islamistisch, rechtsextrem oder linksextrem – sind ein Fall für den Verfassungsschutz. Viel wichtiger ist das Umfeld: Mich interessieren die Jugendlichen, die vielleicht für einfache Parolen anfällig sind, die wir aber noch erreichen können. Um sie müssen wir uns mehr kümmern. Mich interessieren die Kieze, in denen es nicht so gut läuft. Mich interessiert die Welt jenseits der roten Teppiche und der Amtsstuben, wo das echte Leben stattfindet.

Die Mittelschicht der Stadt hat es schwer

Das ist nämlich die andere Seite der Medaille: Berlin hat in den letzten Jahren einen unglaublichen Aufstieg geschafft. Wir sind von einer armen Pleitestadt zu einer reicher werdenden Metropole geworden. Die Stadt ist so cool, dass man dabei fast übersehen könnte, wo es noch echte Probleme gibt: Die Mittelschicht in der Stadt hat es – nicht zuletzt wegen der steigenden Mieten – sehr schwer, sich etwas aufzubauen. Gerade wenn Kinder da sind und man eine größere Wohnung braucht. Gerade viele Alleinerziehende kommen trotz Arbeit kaum über den Monat. Daher wollen wir zum Beispiel die Krippengebühren abschaffen – denn sie wirken wie eine Strafsteuer auf Kinder.

Es gibt Gegenden in unserer Stadt, in denen viele junge Menschen schlicht keinen Glauben an sich selbst haben. Sie glauben nicht an den sozialen Aufstieg durch Bildung. Sie glauben auch nicht an den sozialen Aufstieg durch Anstrengung. Noch immer haben so viele junge Menschen zu wenig Chancen, dass unser Wohlstand und unser friedliches Zusammenleben in Zukunft bedroht sind: In Berlin liegt die Kinderarmut auf einem Rekordhoch. Jedes vierte Kind ist betroffen, jetzt, im Jahr 2014, bei starker Wirtschaft. Sie hören Sätze wie: „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose.“ Oder: Wenn Du Svetlana oder Ali heißt, wird Deine Bewerbung sowieso aussortiert. Und die Lehrer machen in Mathe Sachaufgaben mit Hartz-IV-Rechnungen. Es soll nicht als Ausrede herhalten. Aber manchmal resultiert der mangelnde Respekt in den Problemkiezen auch aus dem mangelnden Respekt ihren Einwohnern gegenüber.

Beim Schulschwänzen wurde auch zu lange weggeschaut

Raed Saleh will ganz nach oben, aber dafür braucht er die Berliner SPD.
Raed Saleh will ganz nach oben, aber dafür braucht er die Berliner SPD.

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Meistens geht es dabei nicht um Diskriminierung – sondern ums Wegschauen. Als ich gemeinsam mit dem Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky ein Programm für Brennpunktschulen durchsetzte, durchbrachen wir damit ein fast zwei Jahrzehnte altes Tabu: Dass man nicht an allen Schulen die gleichen Chancen hat. Für Eltern war das schon lange selbstverständlich gewesen. aber nicht für die Politik. Sie hatte Angst vor der Stigmatisierung von Schulen; dass es dann weniger Anmeldungen geben würde; dass Lehrer dort nicht arbeiten wollen würden. Alles gute Gründe – das Resultat: Ignoranz.

Man hatte Angst vor der Stigmatisierung von Schulen

Beim Schulschwänzen galt lange eine ähnliche Haltung. Man organisierte zwar teure Träger, um die Probleme zu lindern. Aber ein Bußgeld war lange Tabu. Bis die SPD-Fraktion sagte: Wir lassen kein Kind zurück. Und dass man diesen Satz auch ernst nehmen muss, notfalls mit Bußgeldern gegen die Eltern.

Eine ähnliche Debatte erleben wir gerade beim Thema Ausbildungsplätze. Mittlerweile gibt es viele unbesetzte Ausbildungsplätze. Das ist eine Situation, wie wir sie uns vor Jahren noch gewünscht hätten. Schließlich war Jugendarbeitslosigkeit lange eines der bittersten gesellschaftlichen Probleme. Denn wenn man nicht als junger Mensch arbeiten lernt, dann hat man es später sehr schwer, auf eigenen Füßen zu stehen. Und nun zeigt sich: Trotz freier Plätze bleiben viele Jugendliche ohne Ausbildung! Dieses Missverhältnis treibt die Politik aber auch die Wirtschaft selbst enorm um.

Vor einigen Tagen war ich auf dem Unternehmertag der Vereinigung der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg. Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber, Ingo Kramer, hielt eine Rede, bei der ich nicht vielem zustimmen konnte. Er war gegen die Frauenquote, skeptisch beim Mindestlohn. Aber dann kam Kramer auf das Thema Ausbildung zu sprechen. Ihm erzählte ein Mitgliedsunternehmen von jungen Leuten, die höflich waren, sich gut ausdrücken konnten. Doch eingestellt wurden sie vom Unternehmen nicht. Begründung: „Sie können keinen Dreisatz.“ Ingo Kramer wurde bei diesem Teil der Rede erkennbar emotional – und das machte mir Hoffnung. Natürlich gebe es Probleme mit der Ausbildungsreife, gestand er ein. Aber man könne nicht 20 Prozent der Gesellschaft einfach wegwerfen. „Dann bringt ihnen den Dreisatz bei!“, forderte er. Tatsächlich kann das deutsche System der Ausbildung, die abwechselnd im Unternehmen und in Berufsschulen stattfindet, viel leisten.

Zugleich wird es nicht die Lösung für alle Bildungsprobleme sein. Politisch frage ich mich daher: Wie schaffen wir es durch einen Mix von Hilfe und Konsequenzen, dass Jugendliche auch eine Ausbildung anfangen, die vielleicht nicht ihr Traumberuf ist – und diese dann auch beenden? Brauchen wir nicht eine Jugendberufsagentur, die das Ungleichgewicht auf dem Ausbildungsmarkt bekämpft? Ich glaube, ja. Als Regierender Bürgermeister wird meine erste Amtshandlung sein, dass wir das schon vorhandene Konzept der Jugendberufsagentur umsetzen.

Jeder Jugendliche soll einen Ausbildungsplatz erhalten

Mein Ziel ist, dass jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz erhält. Ich weiß, dass diese Aussage politisch riskant ist, denn keiner kann derzeit den Erfolg einer solchen Jugendberufsagentur garantieren. Doch es lohnt sich, dafür zu kämpfen – genauso, wie für eine starke Wirtschaft insgesamt. Denn Sozialpolitik und Bildungspolitik reichen für den sozialen Aufstieg nicht aus. Wir müssen den roten Teppich für Unternehmen ausrollen und weiter auf die Verbindung von Wirtschaft und Wissenschaft setzen. Weil das Berlins Stärke ist. Wenn wir mehr Jobs haben, steigen auch die Chancen auf den sozialen Aufstieg. Mancher Erfinder von Übermorgen geht heute noch zur Kita in Neukölln oder Marzahn. Mit einer starken Wirtschaft verbinden sich Lebensperspektiven. Menschen, die eine Aufgabe haben, die sich etwas aufgebaut haben – sie respektieren einander, egal wie unterschiedlich sie sind. Damit dieses neue Miteinander Wirklichkeit wird, müssen wir die Chancen aller Kinder in Berlin verbessern. Diese Aufgabe sollten wir nicht ignorieren. Berlin ist eine großartige Stadt. Aber Ignoranz ist nicht cool.

Der Autor ist Chef der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin. Innerhalb der SPD kandidiert er für die Nachfolge Klaus Wowereits. An den nächsten beiden Sonntagen kommen seine Gegenkandidaten Jan Stöß und Michael Müller zu Wort.

Den Gastbeitrag von Jan Stöß lesen Sie hier.

Raed Saleh

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