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Berlin: Die Einkaufsmeile beherbergt zufriedene Händler und ist Treffpunkt der Bewohner von Westend

Der Versuch, einem Bewohner Westends etwas Negatives über die Reichsstraße zu entlocken, ist so gut wie aussichtslos. "Hier ist die Welt noch in Ordnung", findet Klaus Blum.

Der Versuch, einem Bewohner Westends etwas Negatives über die Reichsstraße zu entlocken, ist so gut wie aussichtslos. "Hier ist die Welt noch in Ordnung", findet Klaus Blum. "Es gibt ein nettes Publikum, und man kann gut einkaufen." Blum wohnt seit 30 Jahren in der Angerburger Allee und ist regelmäßig bei Skatrunden in der traditionsreichen "Westend-Klause" am Steubenplatz anzutreffen. Dort sitzen er und seine Skatbrüder unter einem Bildnis des Dichters Joachim Ringelnatz, der in den 30er Jahren seinen Stammplatz an dem Tisch hatte und wenige hundert Meter entfernt am heutigen Brixplatz wohnte.

Die Zufriedenheit der Anwohner erklärt sich großenteils aus der Nähe zur City, den ausgezeichneten Verkehrsverbindungen per Bus, S- und U-Bahn, der Nähe zum Olympiastadion und zur Waldbühne - und der Tatsache, dass die knapp zweieinhalb Kilometer lange Reichsstraße zwischen Theodor-Heuss-Platz und Spandauer Damm in erster Linie eine Einkaufsmeile ist. Selbst die Händler mögen sich hier nicht beschweren - während die Geschäfte sonst ja fast überall in der Stadt über sinkende Umsätze klagen. "Ich habe viele Stammkunden und bin zufrieden", sagt Juwelier Gerhard Kappauf. Bei ihm kaufen zum Beispiel Schauspieler Wolfgang Gruner und Hertha-Stürmer Michael Preetz ein. Kappauf hatte sich 1980 mit dem Juwelierladen selbstständig gemacht; 1988 zog er auch privat aus Wilmersdorf nach Westend um. In der Reichsstraße "hält sich der Vormarsch der Filialbetriebe in Grenzen", lobt er. Tatsächlich gibt es zwar einige Filialen von Firmen wie McPaper und Blume 2000. Das Gros der rund 120 Geschäfte bilden aber nach wie vor mittelständische Unternehmen und Familienbetriebe. Und dies führt auch zu engen Bindungen zur Kundschaft. "Ich bin bekannt wie ein bunter Hund", sagt Kappauf. In den Geschäften der Straße können nicht nur Stammkunden, sondern auch Fremde mit einer kleinen Plauderei rechnen.

"Keine Buchhandlung, sondern eine Weltanschauung" sieht Ursula Kiesling in ihrer Buchhandlung "Der Divan", einem der ältesten Geschäfte in der Straße. "Hier trifft sich halb Westend." Kaum ein Alltagsthema komme nicht zur Sprache: "Man erfährt auch, wer seine Katze loswerden muss." Die Anziehungskraft der Buchhandlung beruht auch auf den oft prominent besetzten Lesungen. Unter anderem haben hier schon Elke Heidenreich und Jostein Gaarder ("Sofies Welt") ihre Werke vorgestellt. Ein paar Häuser weiter gibt es mittlerweile einen Ableger speziell für Jugendbücher, den "Kinder Divan".

Ursula Kiesling ist auch Vorsitzende der Händlergemeinschaft "IG Reichsstraße". Für die Beliebtheit der Einkaufsmeile hat sie zwei Erklärungen: "Hier bekommt man alles, und wir behaupten uns mit Super-Service gegen die Großen."

Die Interessengemeinschaft richtet das traditionelle Reichsstraßenfest aus, das seit Anfang der 80er Jahre zweimal jährlich stattfindet und zuletzt mehrere Hunderttausend Besucher anzog. Allerdings ist das Fest umstritten. Viele meinen, es habe in den vergangenen Jahren immer mehr an Niveau verloren und sei zur "Fressmeile" verkommen. Zahlreiche Kiezbewohner flüchteten buchstäblich vor dem Trubel und verreisten. Die Unzufriedenheit führte maßgeblich dazu, dass die ursprüngliche Händlergemeinschaft "AG Reichsstraße" vor ein paar Monaten zerbrach und sich bisher 57 Geschäfte in der "IG" organisierten. Die AG besteht auch noch, aber bei der Bewerbung um das Fest gab das Tiefbauamt der neuen Gemeinschaft den Zuschlag.

Im Juni richtete diese zum ersten Mal die zweitägige Veranstaltung aus. Man wertete das Fest mit Autorenlesungen, Signierstunden, mehr Live-Musik und Kunsthandwerk sowie einem "VIP-Zelt" als Politiker- und Prominenten-Treff auf. Dafür gab es weniger Kulinarisches. Ursula Kiesling musste jedoch feststellen, dass man es nicht allen Recht machen kann. Prompt gab es Beschwerden, weil nur noch eine "China-Pfanne" und zwei oder drei Rostbratwurst-Buden zur Verfügung standen. Das nächste Reichsstraßenfest ist für Mitte September geplant.

Die Interessengemeinschaft strebt übrigens auch längere Verkaufszeiten in der Straße an. Bisher öffnet nur der "Divan" bis 20 Uhr, die anderen Geschäfte schließen zwischen 18 und 18 Uhr 30.

Abends bummelt fast niemand mehr über die Straße, das Leben spielt sich dann nur noch in den Restaurants ab. Diese sind immerhin so attraktiv, dass viele Anwohner auch beim Ausgehen im Umkreis bleiben. Neben der "Westend-Klause", in der zum Beispiel auch der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen öfter gastiert, laden unter anderem das "Wiener Kaffeehaus" am Steubenplatz und ein halbes Dutzend italienische Restaurants der gehobenen Klasse zum Verweilen ein.

Die Bronzeskulptur am Steubenplatz verwirrt viele Außenstehende - denn wie der deutsch-amerikanische General Friedrich Wilhelm von Steuben (1730 bis 1794) sieht der junge Reiter nicht gerade aus. In der Tat hat das Kunstwerk von Louis Tuaillon ("Der Sieger") keinen direkten Bezug zu Steuben, sondern zeigt eine Art griechisches Jünglingsideal. Die Skulptur stand ursprünglich im Wannseer Garten eines Kommerzienrats und erhielt erst 1961 ihren heutigen Platz.

Wer Erholung sucht, den zieht es nicht an den verkehrsreichen Steubenplatz, sondern an den nahen Brixplatz (oder den weiter entfernten Branitzer Platz). Der Brixplatz wurde 1919-22 nach Plänen des Stadtgartendirektors Erwin Barth als Sachsenplatz erbaut, der heutige Name erinnert an den Städtebau-Professor Ernst Brix. Der 2,1 Hektar große Park gleicht einer märkischen Landschaft. Zur Reichsstraße hin wurden Kalksteinformationen nach Rüdersdorfer Vorbild angelegt. Es gibt auch Teiche, einen Wasserfall, einen Spielplatz und einen Schulgarten mit in- und ausländischen Gewächsen, die wie im Botanischen Garten auf Schildern erklärt werden. Gedenktafeln erinnern an die einstige Wohnung von Joachim Ringelnatz.

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