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Berlin: Die Einöde lebt

An manchen Tagen, wenn Ingolf Göbel schon früh am Morgen zur Kirche geht, schlängelt er sich auf der Straße an Schafen vorbei oder an einem Esel. Gegenüber ist der Dorfkrug, weiter hinten finden sich Fleischer, Tischler und Glaser.

An manchen Tagen, wenn Ingolf Göbel schon früh am Morgen zur Kirche geht, schlängelt er sich auf der Straße an Schafen vorbei oder an einem Esel. Gegenüber ist der Dorfkrug, weiter hinten finden sich Fleischer, Tischler und Glaser. Die Kirche steht in der Mitte des Dorfangers, August Stüler hat sie 135 Jahren im neogotischen Stil gebaut. Wenn Pfarrer Göbel über den Kirchturm hinausschaut, sieht er die Türme der Moderne, Hochhäuser vom Typ QP 71 und WBS 70. Links die Allee der Kosmonauten, rechts die Landsberger Allee, mittendrin Alt-Marzahn, das Dorf zur Platte. „Wenn Sie einen Eindruck vom dörflichen Marzahn haben wollen, müssen Sie zum Erntefest auf dem Anger kommen“, sagt Pfarrer Göbel und erzählt von Musik, Bier und selbst gebackenem Brot.

Marzahn-Hellersdorf im Spätsommer 2006: Touristen entdecken den Fernen Osten Berlins, sie kommen aus Italien, Amerika, Japan. Sie suchen Bestätigung für ihre Vorurteile von der Einöde der sozialistischen Architektur und finden die Idylle des Dorfes. Und sonst? Wo sind die steinernen Schluchten, wo die grauen Fassaden? Die Häuser sind nicht mehr grau, sondern blau, gelb, rot gemustert. Dezente Farben kleiden den Beton, auf den Gehwegen dominiert Grün. Bäume schlucken den Straßenlärm und verbergen die Plattenbauten. Kastanien und Linden, immer wieder Linden, schöner als die vorm Brandenburger Tor.

Monika Schulz hat Marzahn noch anders kennengelernt, als grau-braunes Ensemble aus Matsch und Beton. „Mit Gummistiefeln sind wir durch die Pfützen gesprungen.“ Frau Schulz ist die Katechetin der Marzahner Gemeinde, vor 24 Jahren ist sie mit Mann und Kind gekommen. Es lockte die neue Wohnung, den Rest haben sie hingenommen. Zum Beispiel die S-Bahn-Fahrten zum Einkaufen ins Stadtzentrum, in Marzahn gab es ja nichts. Kneipe und Kinos galten der Partei als dekadenter Luxus, und auch Straßenbäume waren nebensächlich, als Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack am 5. Januar 1979 die Gründungsurkunde des neuen Stadtbezirks unterschrieb.

Im östlichen Zipfel Berlins wollte die DDR ihr Wohnungsproblem lösen, und zwar so schnell wie möglich. Für einen Plattenbau brauchten die Arbeiter 61 Tage. Die SED war stolz auf ihre sozialistische Stadt. Erich Honecker schaute öfter bei ausgewählten Familien in Marzahn vorbei. Einmal brachte er den Libyer Gaddafi mit und zeigte ihm unter Revolutionsführern, wie weit die DDR auf dem Weg zum Kommunismus vorangeschritten war. „Aber die Kirche“, sagt Frau Schulz, „die gab es schon damals.“ Auch dort, wo der sozialistische Mensch geformt werden sollte, erfreute sich die Geistlichkeit großer Beliebtheit. Doch die Kirche war zu klein, „überall haben wir gesessen, auch auf dem Fußboden“, erzählt Frau Schulz. Ein Teil der Kirchgänger zog weiter nach Marzahn-Nord und gründetet eine neue Gemeinde.

Monika Schulz ist eine energische, drahtige Person, immer unterwegs, mit Hausbesuchen hält sie die Gemeinde zusammen. „Das größte Problem heute ist die Arbeitslosigkeit, das ist hier in Marzahn nicht anders als sonstwo in Berlin. Wir von der Gemeinde tun, was wir können.“ Doch was soll man schon machen bei Leuten wie dem Mann, der da mit unsicherem Schritt Richtung Kirche läuft. Er mag um die 50 sein, und Frau Schulz verwickelt ihn in ein Gespräch über seinen befristeten Job. „Wissen Sie schon, was Sie danach machen?“ Der Mann weiß es nicht, er verabschiedet sich schüchtern und lässt eine Alkoholwolke zurück.

Die Zeiten sind rauer geworden, vor allem für die Generation der Gründerzeit. Viele privilegierte Familien kamen Ende der siebziger Jahre nach Marzahn, Angestellte der Großbetriebe und der Ministerien, die es heute nicht mehr gibt. Wer weiß schon, wie es hinter den schönen, bunten Fassaden aussieht. In der Tangermünder Straße im Ortsteil Hellersdorf betreibt Pastor Bernd Siggelkow seit 1995 das christliche Kinder- und Jugendhilfswerk „Die Arche“. Um die 300 Kinder essen hier täglich. Es wird viel geschrieben über die Arche, und das erfreut nicht jeden. Soll sich bloß nicht der Eindruck verfestigen, in Marzahn-Hellersdorf müssten Kinder Hunger leiden. Ein Bezirksverordneter der PDS warf Siggelkow vor, er betreibe eine „Missionierung über den Magen“.

Der Konflikt eskalierte, als die Arche in einem Anzeigenblatt um Spenden warb und dabei wenig schmeichelhafte Worte für den Bezirk fand: „Plattenbauten, triste kleine Wohnungen, eingeschlagene Scheiben. Ein Leben, vergessen von der Politik, am Rande der Gesellschaft.“ Bürgermeister Uwe Klett von der PDS warf Siggelkow vor, er wolle die Arche auf Kosten der Allgemeinheit profilieren. Der Bezirk kürzte die jährlichen Zuschüsse von 36 000 auf 18 000 Euro. Das gab eine noch schlechtere Presse als beim Spendenaufruf. Das Bezirksamt nahm die Kürzung zurück, und Siggelkow macht weiter. Seit August betreibt die Arche eine private Grundschule.

Es ist nur ein Schritt von der Kirche zur Realität. Die Eröffnung der Arche-Schule ist etwas Besonderes in einem Bezirk, der in den vergangenen Jahren 28 Schulen schließen musste. Wie ganz Deutschland hat Marzahn-Hellersdorf ein Generationen-Problem. „In meiner Platte wohnen 32 Mietsparteien, sechs haben Kinder“, erzählt Pfarrer Göbel. 50 000 Menschen sind seit 1989 gegangen. Plattenbauten werden abgerissen, weil die Wohnungen leer stehen.

Auch die Armut ist grün. Grün wie der Beifuß, der an vielen Stellen wuchert. Am Straßenrand, zwischen Gehwegplatten, auf den Grünflächen, die die Parteien zur Werbung für die Wahl zum Abgeordnetenhaus gemietet haben. Der Osten ist eine Hochburg der Linken, aber auch die Rechte formiert sich. Nirgendwo sonst in Berlin hat die NPD so gute Wahlchancen wie in Marzahn-Hellersdorf. Für die Bezirksverordnetenversammlung reicht der Sprung über die Drei-Prozent-Hürde. Erstmals dürfen in diesem Jahr auch die16-Jährigen wählen, und gerade in der Jugend findet die NPD viele Sympathisanten. Vor einem Jahr verteilten Männer vor der Rudolf-Virchow-Schule CDs mit NPD-Wahlwerbung. Als eine Lehrerin dazwischenging, wurde sie tätlich angegriffen.

Die Geschichte mit der Lehrerin ist eine Woche vor der Wahl fast schon vergessen, da bekommt Berlin wieder Angst vor Marzahn . Zwei angetrunkene Rechtsradikale schlagen zwei Plakatkleber der SPD zusammen. Nicht irgendwo in der Anonymität der Hochhäuser, sondern in der Idylle des alten Dorfs. Die rechten Schläger sind polizeibekannt, sie tragen Stahlkappenstiefel und einschlägig bekannte Textilien. Ihr Bier haben sie nebenan getrunken, beim Erntefest auf dem Dorfanger, auf das Pfarrer Göbel sich so sehr gefreut hatte.

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