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Berlin: Die Fehde baumeln lassen

Junge Kreuzberger hier, Polizisten da. Können die sich gegenseitig vertrauen? Ja, beim Bergsteigen

Morgens um sieben ist die Welt noch wurscht, wenn man 15, 16, 17 ist und zwischen kindlicher Müdigkeit und männlicher Unerschütterlichkeit oszilliert. Da steigt man cool in einen grün-weißen Bulli und lässt sich von zwei Polizisten durch die Landschaft fahren. Auf keinen Fall lässt man sich anmerken, wie es in einem wühlt, weil man null Ahnung hat, was auf einen zukommt. Drei Tage weit weg von zu Hause, seinem Kiez, seinen Kumpels. Nur zusammen mit Gleichaltrigen, die man überhaupt nicht kennt, und Erwachsenen, denen man sonst aus dem Weg geht: Polizisten. Am besten erstmal Müdigkeit vorschützen, Beine ausfahren, Arme und Kopf auf den Tisch, an dem sonst Delinquenten sitzen. Und so werfen drei Kreuzberger Jungs ohne jede Verabredung ein Bild, das allen „ethnischen Differenzen“ spottet: Sie verhalten sich identisch, nur ihr Gemurmel und ihre Gesichter sind unterschiedlich getönt. Ruhan, der jüngste, hat türkische Wurzeln, Oscar kubanische, Julian deutsche.

Auch die beiden Polizisten vorn kennen sich nur flüchtig. Der Fahrer ist vom Abschnitt 53 in der Friedrichstraße, heißt sowohl Jens wie Oktay und spricht Deutsch wie Türkisch, der Beifahrer heißt Micha und kommt aus der Direktion 5 in der Friesenstraße, genauer: aus dem „Arbeitsgebiet Ausländer“ (AGA), das jede Polizeidirektion hat und das jetzt einen sinnvolleren Namen bekommen hat: AGIM – Arbeitsgebiet Integration und Migration.

Im zweiten Bulli ein ähnliches Szenario. Aber hier kennen sich immerhin drei der vier Cops – die beiden vorn, Munni und Tessy, sind Kollegen im Abschnitt 53, Kollegin Dani fährt als Ersatz für die Jugendbeauftragte des Abschnitts mit, Thorsten dagegen macht Jugendarbeit im Nachbarabschnitt 52. Die beiden Mädels, die hier die Kreuzberger Jugend vertreten, sind keine Kids mehr und gehören auch eher zur Pufferzone zwischen den „feindlichen Welten“. Cansu, knapp 20, hat türkische Wurzeln und sorgt als „Protection“-Mitglied für Ruhe beim MyFest. Selime, 31, geboren im „Land der Skipetaren“, spricht außer Deutsch und Albanisch noch Türkisch und macht Straßensozialarbeit in der Naunynritze, einer besonders berüchtigten „Kampfzone“.

Was soll das denn werden? Abenteuerurlaub? Hardcore-Therapie für sozialresistente Jung-Kriminelle? Nein. Diese Kids sind nicht kriminell. Es geht um ein Experiment in Sachen Prävention, erfunden und organisiert von Stopp Tokat, das gerade den Berliner Präventionspreis 2008 bekommen hat. Das „Netzwerk gegen Raub und Gewalt in Kreuzberg“ gibt es seit einem Jahr, auf Initiative von Polizisten, allen voran Gary Menzel, dem Leiter des A 53. Mit dabei sind Fußballvereine, das Jüdische Museum, Ordnungsbehörden, Schulen, Politiker und Migrantenorganisationen. Sie alle wollen in ihren Sphären zu einem Ziel beitragen: Die Gewaltkriminalität zurückdrängen, die als „Abziehen“ verniedlicht und von Jugendlichen begangen wird. Tokat ist das türkische Wort dafür. Es heißt sowohl Raub als auch Backpfeife. Stopp Tokat setzt auf unkonventionelle Methoden. Auch das Projekt „Drei Tage Klettern mit Kids und Cops“ war so eine. Die Idee kam Menzel bei einer der Touren, die der evangelische Polizeipfarrer Reinhard Voigt zusammen mit Wolfram „Kalle“ Kallenberg, früher beim SEK, oft mit Polizisten macht. Gemeinsam steile schmale Sandsteinfelsen erklimmen, sich darauf verlassen, dass jemand einen am sicheren Seil hat, zig Meter über festem Boden schweben und schließlich oben ankommen, obwohl man sich das selbst nicht zugetraut hätte – das macht etwas mit einem. Es macht etwas auf, in jedem Einzelnen und in der Gruppe. Im besten Fall den Weg zu Vertrauen anstelle von Argwohn.

Nach drei Stunden Fahrt stehen alle Autos auf einem Parkplatz im Elbsandsteingebirge. Vorstellungsrunde. Duzen. Das ist für die Jungs gewöhnungsbedürftig. Für die Polizisten nicht, die sind alle bei Stopp Tokat oder sonst wie dienstlich engagiert für Jugendliche. Auch die Mädels kennen ein paar Polizisten persönlich. Die Jungs reden sparsam, kichern aber erleichtert, als Reinhard erklärt: „Wir wollen heute mal den Papst besteigen – ist das für die Moslems okay?“ Und konzentrieren sich aufs Technische. Rucksack packen mit allem, was man oben braucht: Essen, Trinken, Pullover.

Selime nölt. Irgendwie hatte sie sich die Tage anders vorgestellt. In die Haltegurte steigen, die Sicherungsseile richtig verknoten, Karabinerhaken ans Bein hängen, rein in stramme Lederschuhe, die einem die Zehen nach unten biegen. Am Berg ist nur Platz für Fußspitzen. Reinhard verkündet die Kletterregeln: 1. Man steigt mit den Augen. 2. Es heißt Bergsteigen, nicht Bergziehen. 3. Es sind immer mindestens drei Extremitäten am Berg. 4. Das Seil ist heilig. 5. Über den, der gerade klettert, wird nicht gewitzelt. 6. Der Vorsteiger hat immer recht. Also er oder Kalle.

Kalle geht zuerst hoch. Ein Dutzend Augenpaare folgt ihm. Tessy, Munni und Thorsten sind schon geklettert, Julian auch, aber in der Halle. Die andern gar nicht. Cansu scharrt mit den Füßen und hat vorfreudig blitzende Augen. Selime probiert erst Fingernägel, dann Höhenangst als Argument, da nicht hoch zu wollen. Ruhan macht einen Plan. „Erstmal so von hier, dann die Lücke dort, und der Rest – ist Arbeit“, resümiert er. Von oben winken inzwischen Cansu, Micha, Julian und Oktay-Jens triumphierend herunter.

Nach drei Stunden sind außer Selime alle oben, lassen sich stolz am Seil wieder runter und fallen über die Essvorräte her. „Das war 'ne schnuffliche 2“, grinst Reinhard, „ich glaub, ihr könnt alle jetzt mal ’ne schöne 4 klettern.“ Bis zum Schwierigkeitsgrad 7b will er die Gruppe kriegen. Die Scheu vorm Duzen ist verschwunden mit der Erfahrung, dass man sich gegenseitig zum Erfolg verhelfen und trotz unterschiedlichem Mutterwitz gemeinsam lachen kann. Und gelacht wird viel. Über schmerzende Füße, zu kurze Beine und alte Knochen ebenso wie über Religionen und ethnische Eigenarten.

Zwei Stunden später haben alle die „schöne 4“ geschafft. Die einen um ein vorhängendes Felsstück herum, die anderen durch eine Spalte. Mit den Knien zu klettern versucht niemand mehr, auch die Kommandos gehen routiniert. „Seil kommt“ und „Bin dran!“ Das Gepäck ist leichter beim Rückweg zu den Autos, dafür sind die Glieder schwer. Auf zum Gasthof Hoffnung, Zweierzimmer beziehen, duschen, Abendessen. Es gibt Inges gute sächsische Küche und Nicht-Schweinisches für die Muslime und dann die erste Runde Feedback. Alle stellen sich nochmal genauer vor – wo sie arbeiten oder zur Schule gehen und wie sie das alles bisher fanden. Und dann fliegen die Fetzen. Die Mutter der Kompanie ist stinkig, weil diese „Kompanie“ irgendwie nicht bemuttert werden will. Jedenfalls nicht von ihr. Also geht sie auf „die Bullen“ los wie Reich-Ranicki auf „das Fernsehen“. Die seien ja ganz nett, ohne Uniform und freizeitmäßig drauf, aber ansonsten hauen die dauernd „meine Brüder“ platt, sie sehe es doch immer in der Naunynritze. Die Kids, die eben gelernt hatten, dass viele der Polizisten sich untereinander genau so fremd waren wie ihnen, also irgendwie nicht so recht taugen für Verschwörungstheorien, macht die sture Aggressivität ratlos. Die Polizisten reagieren so verschieden, wie sie sind – die einen argumentativ, andere gruppendynamisch. Aber alle reden Tacheles.

Der nächste Tag beginnt wieder extrem früh, aber der Gruppen-Dynamo funktioniert. Die Felsen sind schwieriger. Micha grübelt, wie Reinhard als Vorsteiger ohne Sicherung da hochkommt. „Der ist Pfarrer, der hat ’n direkten Draht nach oben!“ kontert Oktay-Jens. Cansu klettert wieselschnell hinterher, schwenkt ihre Kette und kräht runter: „Ich hab meinen Koran am Hals!“ Tessy und Selime zitieren im Chor: „Der Glaube kann Berge versetzen“, Tessy findet, das sei jetzt „wahre Ökumene“, und Reinhard beklagt drangvolle Enge auf dem Gipfel: „Der ist sozusagen bevölkert mit Gott, mit Allah und mit zwee so Leuten hier...“ Oktay-Jens wird auf Türkisch angefeuert: „Oktay – en büyük!“ Was „änbück“ heißt, will Munni wissen. Selime grinst: „Der größte ist Oktay, es gibt keinen größeren als ihn.“

Der letzte Tag hat’s in sich. Reinhard und Kalle befinden, dass die Gruppe die „knuffiche 7b“ schaffen wird. Sie haben schon am zweiten Tag nicht mehr darauf achten müssen, dass sich jeder für die Sicherung verantwortlich fühlt. Das Prinzip Seilschaft zieht tatsächlich alle mit und hoch. Der große Thorsten ist beim Mittagessen noch fassungslos: „Kurz vorm Gipfel war eigentlich bei mir Feierabend, also – ohne euch hätt ich’s nicht gepackt, ganz ehrlich. War super!“ Alle nicken, alle finden, es könnte ruhig noch drei Tage weitergehen, Micha vermutet, dann würden sie sich gegenseitig zum Geburtstag einladen, und erntet brüllendes Gelächter. Cansu grinst, die 7b habe aber „Spuren hinterlassen, überall“ und meint auch das durchaus doppelsinnig. Alle haben viel zu „verdauen“, Kids wie Cops. Die Kids, sagt Tessy, „werden viel zu erzählen haben, in ihren Kreisen: Weißu, hab isch Bullen kennengelernt, ey, voll krass in Ordnung!“

Der Erfolg von Prävention lässt sich nicht schnell messen. Er zeigt sich, wenn Feindbilder sich in Luft auflösen. Zwei aus der Gruppe haben das kurz danach erlebt, auf einer Straße in Neukölln. Ein paar türkische Jungs brüllen sich an. Micha kommt zufällig vorbei, steigt aus, fragt, ob’s Probleme gibt. „Allet okay“, schallt es zurück. Plötzlich kommt Ruhan auf ihn zu: „Micha, wie geht’s?“ Vor allen Jungs und Mädels. Die sind platt. Micha fährt weiter. Ruhan muss viel erzählen.

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