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Berlin: „Die Folgen werden tiefgreifend sein“

Barbara John, Chefin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, kritisiert Kürzungen bei Erziehungshilfen

„Ich bin außerdentlich beunruhigt über das, was durch die Einsparungen losgetreten wird. Die Folgen werden tiefgreifend sein.“ Mit diesen Worten reagiert Barbara John, Vorsitzende des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin, auf den Beschluss der Koalition, in den nächsten beiden Jahren 33 Millionen Euro bei den Hilfen zur Erziehung einzusparen. Weil sozial benachteiligte Familien und Alleinerziehende künftig dringende Unterstützung nicht mehr erhielten, werde sich die soziale Lage weiter verschärfen, warnt die frühere Ausländerbeauftragte. Der Senat versucht, wie berichtet, die beschlossenen Kürzungen in Teilen auszugleichen: So erstattet das Land den Bezirken, die mehr Hilfen gewähren müssen, die zusätzlichen Ausgaben zu drei Vierteln. „Doch viele Bezirke können die Mittel weder umschichten noch vorfinanzieren“, sagt Elfi Witten, Sprecherin des Wohlfahrtsverbandes. Zudem sei die Zahlung an Bedingungen geknüpft, etwa die Verpflichtung, Jugendamtsmitarbeiter zu Schulungen zu schicken.

„In der Hauptstadt Berlin ist die soziale Lage alles andere als glänzend. Das Gegenteil ist der Fall“, sagt Barbara John. So wurden nach Kripo-Statistiken 2004 in Berlin 398 Fälle von Kindermisshandlungen angezeigt, in Hamburg waren es 25. In dieser Stadt erziehen 22 000 psychisch schwer kranke Frauen ein Kind; bei vielen der 250 000 Alkoholiker leben Kinder im Haushalt. In den Migrantenfamilien ist die Arbeitslosigkeit mit 43 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. „Und trotz all dieser Zahlen gibt es kein anderes Bundesland, das derart drastisch bei den Hilfen zur Erziehung spart“, kritisiert Frau John. So wurden von 2002 bis 2005 bereits 128 Millionen Euro gestrichen – inklusive der nun greifenden Kürzungen habe sich Berlin damit in fünf Jahren von 40 Prozent seiner Hilfen zur Erziehung verabschiedet. Betroffen sind Elternberatungstellen, Familienhelfer, Heime, betreute Jugend-WGs, Krisendienste, Jugendberufshilfe. Nahezu 4000 Stellen fielen bereits weg, rund 800 weitere werden nun noch entfallen. Im Jahr 2002 halfen die Jugendämter in 21 500 Fällen – 2005 waren es 14 500. In zwei Jahren werden es noch 8400 sein.

„Weil die stationären Hilfen wie Wohngruppen langfristig angelegt sind, werden die Jugendämter künftig bei ambulanten Diensten wie Familienhelfern kürzen. So kann nicht mehr früh und schnell eingegriffen werden“, sagt Peter Cersovsky von „Jugendhilfe e.V.“. Eine aktuelle Studie des Instituts für Jugendhilfe in Mainz habe jedoch gerade ergeben, dass ein bei der Jugendhilfe gesparter Euro die Gesellschaft später mit drei Euro Folgekosten belastet – etwa wenn nicht geförderte Heimkinder kriminell werden und als Insassen im Gefängnis Kosten verursachen. Auch Gunter Fleischmann, Geschäftsführer von „Jugendwohnen im Kiez“, warnt vor einer Zunahme des Gewaltpotentials. Um Verhältnissen wie in Frankreich vorzubeugen, müsse Berlin mehr in Kinder- und Jugendarbeit investieren, Migrantenfamilien mehr unterstützen, appelliert Frau John. Mit dieser Bitte haben sich auch die Kirchenoberhäupter an Berlins Regierenden gewandt. Lehrer sollten sich häufiger ans Jugendamt wenden, wenn sie verhaltensauffällige Schüler haben.

Vielen Eltern falle es schwer, zum Jugendamt zu gehen und eigene Defizite zuzugeben, sagt Ulrike Urban vom Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe – der Fonds hilft Bedürftigen, die abgewiesen wurden. „Erstaunlicherweise reicht es oft, eine Mutter ins Jugendamt zu begleiten. Plötzlich wird die Hilfe doch gewährt.“ Frau Urban kritisiert den bei der Senatsverwaltung zuständigen Abteilungsleiter Wolfgang Penkert. Dieser hatte gesagt, die Kürzungen seien unproblematisch, schließlich gebe es keine Klagewelle betroffener Eltern. „Viele der Menschen, die sich auch intellektuell unterlegen fühlen, trauen sich nicht, es mit Akademikern bei Gericht aufzunehmen.“

Annette Kögel

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