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Berlin: Die ganz große Familie

Kinder, Eltern, Großeltern unter einem Dach und die Freunde auch dabei: So zu leben wird immer beliebter

Jörg Hildebrandt ist selbst überrascht. Schon sechs Jahre wohnt er mit Bruder, Tochter und Neffe, mit Enkeln und seiner 92-jährigen Mutter unter einem Dach. Immer noch läuft es gut. Der 66-Jährige passt auf die Kleinen auf, die Jüngeren kaufen für die Älteren ein, sonntags wird zusammen gefrühstückt.

Dass die Generationen miteinander leben statt getrennt, davon hatte seine verstorbene Frau Regine geschwärmt, Regine Hildebrandt, Brandenburgs Sozialministerin von 1990 bis ’99. Sonntagnachmittags alle versammelt, Frankfurter Kranz auf dem Tisch, das war ihre Vorstellung von Glück. Die Kinder fanden das jahrelang schrecklich. Aber als die Mutter an Krebs erkrankte, erzählt Jörg Hildebrandt, da war es die Tochter, die vorschlug, man möge zusammenziehen, um der Mutter nahe zu sein. Auf einem 1500 Quadratmeter großen Grundstück am Woltersdorfer See haben sie ein zweistöckiges Haus mit fünf Wohnungen gebaut und sind im November 1997 eingezogen. „Regine hat das sehr genossen“, sagt Jörg Hildebrandt, „wenn sie spätabends vom Dienst heimkam, hat sie oft zu den Enkeln ins Kinderbettchen geschaut“. Aber das Haus sei keine Insel der Seligen. Es gebe auch hier den üblichen Familienzoff. Es brauche eine ordentliche Portion guten Willens, Rücksichtsnahme sowieso und die Fähigkeit, auch mal großzügig über Störendes hinwegzusehen.

Für immer mehr Menschen aber entspricht diese Wohnform offensichtlich einer großen Sehnsucht. Seit 1999 leben 27 Frauen, die älteste ist 76, mit vielen Kindern in Britz zusammen. Als sie eingezogen sind, war das noch ein exotisches Projekt. Heute entsteht Ähnliches in vielen Stadtteilen. Umfragen der Stadtentwicklungsverwaltung haben ergeben, dass fünf bis acht Prozent der Berliner an Wohnformen interessiert sind, in denen mehrere Generationen zusammenleben. Der Bedarf werde weiter wachsen, sagt Jochen Hucke von der Stadtentwicklungsverwaltung. Schließlich werden 2020 28 Prozent der Berliner über 65 Jahre sein. Wenn man die potenziellen Mehrgenerationen-Wohner zufrieden stellen wollte, müsste man 1000 Altbau-Häuser zur Verfügung stellen, hat Hucke ausgerechnet. Möglich wäre das, 100 000 Wohnungen stehen in Berlin leer. Bislang beschränkt sich die Verwaltung aber darauf, Einzelprojekte zu unterstützen, vor allem mit guten Worten beim Liegenschaftsfonds, der Grundstücke des Landes verkauft.

Denn für eine Gruppe, die ein Mehrgenerationen-Haus entwickeln will, sei es sehr schwer, an Grundstücke heranzukommen, sagt Hucke. Allein, sich zu einigen brauche Zeit – mehr Zeit als die Ausschreibungsfristen vorsehen. Da seien Bauherren, die sich alleine um ein Grundstück bewerben, im Vorteil. Angesichts der demografischen Entwicklung müsste die Politik daher darauf drängen, dass bestimmte Grundstücks-Kontingente für alternative Wohnformen zur Verfügung gestellt werden. „Wir wollen uns dem Thema bald annehmen und Grundstücke heraussuchen, die man solchen Gruppen anbieten kann“, sagt Liegenschaftsfonds- Sprecherin Irina Dähne.

„Man muss herausfinden, ob man zusammen passt“, sagt Gabi Zenke, „das braucht seine Zeit, wenn die Gruppe Bestand haben soll.“ Sie, Schauspielerin, und ihr Mann Harald, Architekt, haben vor drei Jahren das Mehrgenerationen- Projekt „Lebenstraum Johannisthal“ ins Leben gerufen, eine Siedlung von mittlerweile 20 Wohneinheiten im Südosten Berlins. Auf dem 8000 Quadratmeter großen Gelände wohnen seit vergangenem Sommer 30 Erwachsene und 23 Kinder in 15 Häusern. Das heißt 15 Mal zwei Stockwerke mit viel Holz und Balkon, angeordnet um eine runde Fläche, auf der kleine Hügel zu Spielplätzen aufgetürmt sind. Es ist eine Idylle – die harte Arbeit gekostet hat: Mehr als 100 Treffen und tagelange Sitzungen haben die Familien, Alleinerziehenden, älteren Ehepaare gebraucht, um den Bau voran und ihre Wünsche auf einen Nenner zu bringen.

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