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Die heilende Wirkung der Musik: Spiel mir das Lied vom Leben

Der Violinvirtuose Yehudi Menuhin erkannte bei Auftritten in Lazaretten, wie viel Kraft die Musik Kranken geben kann. „Live Music Now“ heißt sein Vermächtnis: Künstler treten ehrenamtlich in sozialen Einrichtungen auf – und lernen selbst viel dazu.

Als Yehudi Menuhin in Berlin sein Konzertdebüt gab, war er noch ein Kind. Albert Einstein war dabei und sagte ergriffen: „Ich weiß nun, dass es einen Gott im Himmel gibt.“ Noch heute, Jahre nach seinem Tod, berührt der große Musiker die Seelen der Menschen, aber nicht nur in großen Konzertsälen, sondern auch in Altenheimen, Krankenhäusern, Hospizen, Gefängnissen und Förderschulen. Das liegt an seinem Vermächtnis und an vielen herausragend engagierten Menschen, die es in die Tat umsetzen. Die Organisation „Live Music Now“ gründete der Violinist und Dirigent bereits 1977. Seit 1996 gibt es den Berliner Zweig, der von 29 Ehrenamtlichen und über hundert geförderten Musikern bespielt wird. Gemeinsam bringen sie Musik dahin, wo Menschen leben, die nicht zur Musik kommen können, unter dem Motto des Maestros „Musik heilt, Musik tröstet, Musik bringt Freude.“

Jährlich ermöglicht der Verein 250 Konzerte, viele davon für Menschen, die mit Musik gar nicht regelmäßig in Berührung kommen. Donata Gräfin von Brockdorff sitzt im Vorstand und betreut ein Hospiz, zwei Altenheime und ein Behindertenheim. Die ausgebildete Flötistin hat ihren Beruf ihren vier Kindern zuliebe aufgegeben. Nun organisiert sie Konzerte und sitzt auch in der Jury, die bei Proben geeignete Musiker herausfiltert. Um bei „Live Music Now“ mitzumachen, reicht es nicht aus, ein wunderbarer Künstler zu sein. Hier sind vor allem auch menschliche Qualitäten gefragt. Von den Künstlern wird erwartet, dass sie Kontakt aufnehmen können mit ihrem Publikum, dass sie die Stücke, die sie spielen, auch erklären können und mit ungewöhnlichen Reaktionen fertig werden.

Musik hat ja sehr unterschiedliche Auswirkungen. Das gilt gerade dort, wo es sich nicht um geübte Konzertbesucher handelt. Manche jubeln dann, andere weinen. Alles ist möglich. Amelie von Gizycki, ebenfalls Vorstandsmitglied und Betreuerin zweier Altenheime und einer Förderschule, hat auch schon sehr heftige, sogar erschreckende Reaktionen erlebt. Für den richtigen Umgang damit gibt es eigene Coachings. „Wir verlangen freilich auch viel von den Institutionen, bei denen wir Konzerte geben“, sagt sie. Sie müssen möglichst allen Bewohnern das Kommen ermöglichen, was teils aufwendig ist, etwa bei vielen Rollstuhlfahrern. Besonders im Hospiz sind die Wirkungen der Konzerte unberechenbar. Man weiß vorher nicht, in welch einem Zustand sich die Menschen befinden.

Gute Erfahrungen haben sie in einer Klinik für psychisch Kranke in Zehlendorf gemacht. Zu den Konzerten kommen auch ehemalige Patienten, sogar Leute aus der Nachbarschaft, obwohl die Konzerte eigentlich nicht öffentlich sind. Aber von Gizycki freut sich über die Brücken, die so auch in die Nachbarschaft gebaut werden, über die weiter reichende Hilfe, die auch bewirkt, dass Berührungsängste abgebaut werden.

Für den in den USA geborenen und in Berlin verstorbenen Geiger, Bratschisten und Dirigenten Yehudi Menuhin hatte es zwei Auslöser gegeben, sich für den Verein zu engagieren. Im Krieg war er in Lazaretten aufgetreten und hatte erkannt, wie wichtig es ist, gerade leidenden Menschen die Kraft der Musik zu geben. Hinzu kam später der Tod der Schwester, die ihm so nahe war und deren Erkrankung er nicht richtig wahrgenommen hatte.

Konzerte in sozialen Einrichtungen schaffen eine ganz andere Nähe zum Publikum. Am Krankenbett lernt ein Musiker, anders zu reagieren als im Konzertsaal mit seinen eingespielten Ritualen und komfortablen Abständen. Aber auch für die Lebenspraxis ist die Förderung gut. Donata von Brockdorff legt großen Wert darauf, dass die Künstler lernen, wie man Konzertprogramme richtig schreiben lernt, dass sie ihre Lebensläufe immer wieder auf einen aktuellen Stand bringen. An der Hochschule geht es in der Regel nur um die Instrumentbeherrschung. Da wird vieles, was auf Anhieb profan wirkt, im Künstleralltag und bei der Selbstvermarktung aber eine Rolle spielt, gar nicht erst gelehrt. So weitet „Live Music Now“ nicht nur den Horizont bedürftiger Menschen, sondern auch den der Künstler. Seit der Gründung des Vereins wurden 521 Musiker gefördert. Rund 250 Konzerte organisiert der Verein pro Jahr in derzeit knapp 90 Einrichtungen. Instrumentalisten werden bis zum 30., Sänger bis zum 33. Lebensjahr gefördert. Dafür entstehen kaum Kosten, trotzdem werden weiterhin Sponsoren gesucht, auch große wie die Weberbank, die sich immer wieder engagiert hat.

Manchmal wenden sich auch Veranstalter an den Verein, die für eine eigene Veranstaltung einen guten Musiker suchen. Gegen eine Spende bekommen sie dann eine Empfehlung. Ein ehemaliger Stipendiat will eine Dependance des Vereins jetzt in Russland aufbauen. „Wir sind alle mit viel Liebe und Leidenschaft dabei“, beschreibt Amelie von Gizycki die Seelenlage der Ehrenamtlichen.

Viele Künstler gewinnen eine neue Einstellung zu ihrem Beruf. Für den Cellisten Johannes Moser war es eine eindrückliche Erfahrung, als er vor 60 behinderten Kindern spielte und sie plötzlich schrieen, tanzten und klatschten. Mal betätigen Zuhörer die Hupen ihrer Rollstühle statt zu klatschen, mal flippen sie völlig aus. Auch im Hospiz erleben sie rührende Szenen, als ein demenzkranker Opernsänger, der sich an seinen eigenen Namen nicht erinnert, plötzlich in ein Lied einstimmte, als eine junge Frau, die im Sterben lag, das letzte Weihnachtslied ihres Lebens hörte. Etwa zweimal im Jahr lädt der Verein zu Benefizkonzerten. Da gibt es regelmäßig Kooperationen mit etablierten Künstlern wie Ulrich Matthes oder Martina Gedeck. Viele ehemalige Stipendiaten sind inzwischen bekannte Musiker oder Professoren. Auch sie tragen die Botschaft des Vereins in die Welt. www.livemusicnow-berlin.de/home.html

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