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Berlin: „Die innere Anspannung macht krank“

Eine Psychologin über Frauen und Doppelleben

Zu welchen psychischen Problemen kann es kommen, wenn man, wie viele Türkinnen, zwischen zwei Kulturen lebt?

Die Identität eines Menschen entwickelt sich entsprechend seines Umfeldes, seiner Gruppenzugehörigkeit und seiner Kultur. Wenn es zwischen den Normen der jeweiligen Kulturen zu große Widersprüche gibt, ist es sehr schwer, eine klare Identität auszubilden. Es kann zu Loyalitätskonflikten kommen, wenn die Regeln der einen Kultur denen der anderen widersprechen. Die Betroffenen leiden unter Schuldgefühlen und Minderwertigkeitskomplexen, wenn sie Dinge tun, die zum Beispiel in ihrer Ursprungskultur verboten oder verachtet sind. Diese Konflikte können zu Angst, Depressionen, Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten führen. Ebenso können psychosomatische Beschwerden wie Bauch und Kopfschmerzen, Atemnot und Kreislaufstörungen auftreten.

Woran entzündet sich der Konflikt?

In der deutschen Kultur wird die Individualität gepriesen und gefordert. Aber in den türkischen Familien wird sehr wenig Raum für Individualität gelassen. Besonders für Mädchen ist eine bestimmte eng umschriebene Rolle vorgesehen. Wenn sie die nicht spielen wollen, kriegen sie schnell die Grenze gezeigt.

Viele Frauen weichen diesem Konflikt aus, indem sie ein Doppelleben führen. Ihrer Familie suggerieren sie, nach ihren Regeln zu leben und den deutschen Freunden auch.

Das ist aber kein Ausweg. Denn das Wissen darum, dass man verbotene Dinge tut, führt dazu, dass man ständig Angst hat, bestraft zu werden. Das kann ja bis zum Ausschluss aus der Familie führen und schlimmstenfalls zum Mord, sozusagen der Todesstrafe. Man lebt immer unter einer inneren Spannung. Das halten auf Dauer nicht viele aus.

Wie kann man aus solch einer Situation herausfinden?

Man kann lernen, einen Kompromiss zwischen den verschiedenen Wünschen und Anforderungen der beiden Kulturen zu finden. Dafür muss man sich aber erst einmal bewusst werden, was man wirklich will. Das ist ein schwieriger Prozess.Viele Mädchen oder junge Frauen trauen sich gar nicht, ihre Wünsche wahrzunehmen und sie zu äußern. Gerade Mädchen fehlt das Bewusstsein dafür, wie sie eigentlich leben wollen und welche Möglichkeiten es gibt. Viele sind ja einfach nur unglücklich oder flüchten in die Krankheit.

Was raten Sie Frauen?

Es kommt immer darauf an, in welcher Situation die Frau ist. Nicht für alle ist der Weg des Kompromisses richtig. Es gibt auch die Möglichkeit, dass man sich für die eine oder die andere Kultur entscheidet, dass man die Familie verlässt und ganz in der deutschen Kultur lebt oder dass man ganz zu den Traditionen zurückkehrt und die Begegnung mit der deutschen auf einen Minimalkontakt beschränkt. Wichtig ist, dass sie damit ihren Frieden findet.

Welche Voraussetzungen braucht es noch?

Viele Frauen wissen gar nicht, welche Rechte und Alternativen sie in der deutschen Gesellschaft haben und wo man Hilfe bekommen kann. Zum Beispiel dass eine 22-jährige Frau ihr Kindergeld selbst bekommen kann, wenn sie auszieht, das weiß kaum eine.

Ein Problem ist, dass viele Frauen nicht das Selbstbewusstsein haben, um sich gegen ihre Familien zu stellen.

Es braucht schon enorm viel Selbstvertrauen für diesen Schritt. Aber das kann sich entwickeln. Ich kenne viele Frauen, die sich mit Hilfe von Sozialarbeitern und therapeutischer Begleitung nach einer Weile viel zugetraut haben. Aber jemand, der sich nicht vor die Tür traut, bekommt keine Hilfe.

Reden Sie auch mit den Familien?

Nein, denn die Frauen sollen ja lernen, ihren Weg selbst zu gehen. Wenn sie das selbst durchgesetzt haben, gibt das neue Kraft. Außerdem kann man oft schwer von außen einsehen, wo die Grenzen der Machbarkeit in einer Familie verlaufen.

Rochane Falsafi-Amin (42) ist Fachärztin für psychotherapeutische Medizin in Berlin. Sie betreut muslimische Frauen und engagiert sich gegen Zwangsehen. Das Gespräch führte Claudia Keller.

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