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Berlin: Die Kanzlerschmiede

Ein Haus rückt aus dem Schatten des Reichstags: Im einstigen Reichstagspräsidentenpalais entscheidet sich die Zukunft des Landes

„Das regt mich richtig auf“, schimpft der Pförtner vor sich hin. Am Sonnabendmittag steht er kurz nach zwölf vor der Tür, hinter der seit Tagen über Deutschlands Zukunft entschieden wird. Er schaut immer wieder auf die Armbanduhr und ärgert sich. „Wo bleibt er nur?“

Ein paar Passanten, die gerade auf das Haus gezeigt haben und von „Sondierungsgesprächen“ reden, bleiben neugierig stehen. Sie vermuten, dass Frau Merkel schon im Haus ist und dass der Pförtner auf die Herren Schröder oder Stoiber oder Müntefering wartet. Aber der Pförtner sagt, dass heute endlich mal Ruhe im Haus ist, dass sich die Dame und die Herren erst für Sonntag wieder angekündigt haben. „Ich warte nur auf den Lieferanten.“ Für Wasserflaschen, Säfte, erste Häppchen, paar Piccolos zum Anstoßen auf die Koalition und die geklärte Kanzlerfrage? Er darf es nicht verraten.

Dann verschwindet er hinter der Tür unter dem Schild „Friedrich-Ebert-Platz 2“, und bevor sie ins Schloss fällt, sind eine Treppe mit rotem Teppich und das Hinweisschild „Zum Kaisersaal“ zu sehen. Und der kurze Blick erkennt schon: ein gepflegtes, stilvolles Ambiente.

Dann ist Deutschlands derzeit spannendstes Haus wieder dicht. Kein Mucks ist hinter den Mauern zu hören. Auf dem Messingschild neben der Tür steht fast ein ganzer Roman: „Deutsche Parlamentarische Gesellschaft“ und „Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestags und des Europäischen Parlaments e.V.“.

Wieder zieht am Haus eine Reisegruppe vorbei, der Leiter weist auf das sandsteinfarbene Gebäude und erzählt, dass es zu den wenigen historischen Gebäuden des Bundestages gehört und in den neuen Gebäudekomplex Jakob-Kaiser-Haus integriert wurde. Das alte Haus habe zu Ost-Berlin gehört, sagt er nur. Zu seiner Bedeutung, gerade in diesen Tagen, sagt er nichts. Es fragt ihn auch keiner. Alle schauen schnell zur anderen Seite, zum Reichstag, der in der prallen Sonne liegt.

Auch das Haus der Parlamentarischen Gesellschaft ist von Paul Wallot entworfen worden, 1903 als Wohnung, als Palais für den Reichstagspräsidenten. Ein Tunnel verband das Gebäude mit dem Reichstag, der zu Beginn der Nazizeit im Februar 1933 in Brand gesteckt wurde. In der Ballade vom Reichstagsbrand schrieb Bertolt Brecht: „In dem Haus, wo die Verschwörung unbedingt hindurch gemusst, wohnte ein gewisser Göring, der von all dem nichts gewusst...“

Zu Ost-Berliner Zeiten waren im Palais, hart an der Mauer gelegen, der VEB Schallplatte und Stasi-Horchposten untergebracht. Sie hatten das Reichstagsgebäude mit den Bundestagsbüros gegenüber im Visier. Der unterirdische Gang, heute wieder aktiviert, war zwar zugemauert, aber der Reichstag galt als abhörgefährdet. Nach der Wende erwarb der Bund das Gebäude, der Kölner Architekt Thomas van den Valentyn renovierte es, protzig und prunkvoll sollte es nicht wirken, sondern vor allem elegant. Neben dem Kaisersaal restaurierte er das lüsterbestückte Treppenhaus und eine große Freitreppe an der Spree, die Balkons. Der Nutzer stand schnell fest: Die Parlamentarische Gesellschaft, ein Debattierklub, 1951 nach dem Vorbild der Londoner Hansard Society gegründet.

Während das 1999 wiedereröffnete Palais am Ebertplatz, wo der Eingang ist, eher bescheiden wirkt, sieht es auf der Spreeseite wirklich repräsentativ aus. Eine Mauer verbirgt die Sicht auf den Garten, aber am Ufer stehen genügend Steinpoller herum, von denen aus Einblicke möglich sind. Auf Bäumchen, auf rankende Rosen,auf historische Laternen. Und auf ein kleines,weißes Festzelt. Vielleicht ist es für die erste kleine Große-Koalitions-Feier aufgebaut. Vielleicht ist aber, wenn es mit der Lieferung am Sonnabend nicht geklappt hat, gar nichts da, mit dem angestoßen werden kann.

Christian van Lessen

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