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Berlin: Die Kinder von Beslan – zu Gast in Berlin

Fünfzehn Schüler werden in Deutschland betreut, um die Wunden der Geiselnahme zu heilen. Aber die Schreckensbilder begleiten die Kinder im Zoo, auf dem Weihnachtsmarkt und beim Fußball

Aslan hat in Berlin ein Bild gemalt. Es ist kein Fußballer darauf zu sehen, kein Mofa, nicht seine Freundin. Die Zeichnung zeigt die Turnhalle von Beslan: Körper, Köpfe. Und die Leiche des Mannes, der vor seinen Augen erschossen und an ihm vorbei durch den Raum geschleift wurde. Aslan ist 15, und er war einer von Hunderten Gefangenen in der Schule Nummer eins im Kaukasus, die Geiselnehmer am 1. September drei Tage lang in ihre Gewalt genommen hatten.

Der Neuntklässler gehört zu einer Gruppe von 15 Kindern und Jugendlichen sowie 16 Betreuern, die auf Initiative der Dessauerin Ljuba Schmidt sechs Wochen lang noch bis Mitte Dezember während eines Reha-Aufenthaltes in Berlin sind. „Ich wollte den Menschen die Chance geben, Abstand zu gewinnen und ihnen ärztliche Betreuung ermöglichen“, sagt die 59-jährige Lehrerin und Mutter dreier Töchter. Seit 37 Jahren lebt die gebürtige Russin in Deutschland, seit 16 Jahren engagiert sie sich in ihrem Verein „Hilfe für Tschernobylkinder in Brjansk e.V.“. Über ihre Bekannte Ljudmila Cholschewnikowa aus ihrer Geburtsstadt Brjansk kam der Kontakt zu den Kindern in dem kleinen Ort Beslan mit seinen 30000 Einwohnern zustande.

Doch erst ein offizielles Einladungsschreiben des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit auf Russisch konnte den Bürgermeister von Beslan überzeugen. Der Tagesspiegel half bei der Organisation des Besuchs; das Diakonische Werk ermöglichte Unterkunft und medizinische Betreuung. Die Gruppe soll bis kurz vor Ende der Reise abgeschirmt bleiben, „damit unsere Gäste zur Ruhe kommen können“, sagt Frau Schmidt. Für den Tagesspiegel gab es eine Ausnahme – wir wurden gestern dazugebeten.

Die wenigsten der Kinder sind in der Lage, sich wie Aslan mit dem furchtbaren Geschehen auseinander zu setzen. Er ist adoptiert; sein Bruder, leiblicher Sohn seiner Adoptiveltern, wurde vor seinen Augen erschossen. Sein Freund Tamerlan, 13, redet nicht viel, nur manchmal erzählt er davon, wie viel Blut aus einem Menschen herausschießen kann. Auch das kleine Mädchen mit den süßen Zöpfen, die siebenjährige Madina, hat miterlebt, wie Erwachsene andere Erwachsene erschossen, weil sie sich weigerten, Bomben an Decke und Basketballkorb zu befestigen. Ihre Mutter Irina zeigt die Narben am linken Arm: „Da sind Splitter durchgegangen.“ Das ist nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die die 40-Jährige empfindet, seitdem sie mitansehen musste, wie Madinas Zwillingsbruder erschossen wurde an jenem Einschulungstag, den die Familie doch so sehr herbeigesehnt hatte. Die kleine Irina mit der blauen Mütze konnte aus der Schule flüchten, die Schüsse der Verfolger verfehlten ihr Ziel. Zwischen Crèpestand und Chinapfanne klingen all diese Erzählungen wie ein surreales Horrorszenario.

Doch genau dieser Abstand von den Geschehnissen sei der Sinn der Sache, sagt Frau Schmidt. „Die Kinder sollen einfach mal Freude haben können.“ Während des Aufenthalts arbeitet Psychologin Anna Mersljakova aus Brjansk mit den Kindern, Fachärzte einer Diakonischen Kinderklinik beschäftigen sich mit den Hörschäden durch die Explosionen, den Schlafstörungen. Es sind unsichtbare Male. Anders als die Narben unter der Kleidung. Die meisten kleinen Körper sind damit übersät.

Wenn die Kinder nicht beim Arzt sind, spielen sie, besuchen Zoo oder Opernpalais. Bei Hertha waren sie auch, das Spiel sollte ein Erlebnis werden. Das war aber keine gute Idee, weil sie sich vor Lärm und Gegröle fürchteten. Jeden Vormittag erteilen Lehrerinnen Unterricht. Ein wenig Deutsch haben die meisten auch schon gelernt. „Guten Tag“ kennen sie und „Dankeschön“. „Entschuldigen Sie“, sagt die 17-jährige Alina stolz mit einem Lächeln. Was sie später mal werden will? „Ich möchte Jura studieren.“ Aslan will als Informatiker arbeiten. Was würden sie einem Gast in Beslan zeigen? „Unser Sportzentrum, das Kulturhaus, die Berge“, rufen die Kinder. Vielleicht auch die Schule Nummer eins. Die Ruine steht noch; dort waren mehr als 1200 Geiseln eingepfercht. Über 330 Menschen starben, mehr als 500 wurden schwer verletzt. Die Leute stellen heute noch Wasserflaschen ab, damit die toten Kinder wenigstens in der anderen Welt nicht dursten müssen.

Weihnachten wird wegen des Glaubens in den meisten Familien nicht gefeiert. Und wenn doch ein Weihnachtsmann käme, was würdet ihr euch wünschen? „Ein Fotohandy“, sagte Madina. Und bestimmt auch, dass ihr Bruder wieder lebt.

Annette Kögel

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