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Berlin: Die Kunst der Travestie - der Lehrer: ein Russe in Spandau

Die Nachbarn nennen es "Schlösschen", und manche machen einen Bogen darum. Andere gehen immer mal wieder daran vorbei und gucken neugierig über den Zaun.

Die Nachbarn nennen es "Schlösschen", und manche machen einen Bogen darum. Andere gehen immer mal wieder daran vorbei und gucken neugierig über den Zaun. Die helle Villa in schöner Spandauer Wasserlage sieht von außen nicht ungewöhnlich aus. Ein gepflegter Rasen umgibt das Haus, ein Gärtner arbeitet darauf. Auf der Terrasse döst ein Schäferhund in der Mittagssonne. Erst das Schild an der Eingangstür verrät, wo der Besucher gelandet ist. Und warum der eine oder andere Anwohner bisweilen sein biederes Haupt schüttelt. Auf diesem Anwesen residiert Madame Dürells "Internationale Travestieschule".

Wer wohl diese Madame Dürell ist? Die Tür öffnet ein dünner Mann in Jeans und schlaffem Wollpullover. Eine fast eckige Brille sitzt im hageren Gesicht. Er rollt das "rrr" wie ein alter russischer Graf in einem Samstagabendfilm. Travestie, erläutert Sascha Nowak-Tarnawa, "ist pure Kunst, so alt wie die Menschheit". Schon im Alten Rom habe es Männer gegeben, die auf der Bühne in Frauenrollen schlüpften. Die dazu notwendigen Fähigkeiten will der in Oberschlesien geborene Tanzpädagoge in der Privatschule vermitteln. Gesang, Tanz, Schauspiel und Theorie - für 900 Unterrichtsstunden bei verschiedenen Lehrern soll der gutwillige Eleve knapp 35 000 Mark zahlen.

Ein Schüler sitzt auch schon am Tisch. Er trinkt mit uns Kaffee und knabbert Schokoladenherzen, die auf dem edlen Porzellanteller zu einem respektlosen Haufen geschichtet wurden. "Singen hat mir schon immer Spaß gemacht", erzählt Michael, ein Kfz-Schlosser aus Nordrhein-Westfalen. Seit einem halben Jahr nimmt der zurückhaltende Mann bei Madame Dürell Unterricht. Ob er mit dem Abschlusszeugnis später leichter Auftrittsmöglichkeiten findet, ist ihm im Moment nicht so wichtig. "Ich möchte feststellen, wie gut meine Stimme ist. Dann sehe ich weiter."

In seiner mausgrauen Straßenkluft will Michael gar nicht in die gediegene Villa passen. Und Sascha Nowak-Tarnawa nicht zum schillernden Bild einer Travestie-Künstlerin. Als hätte er diese Gedanken erahnt, springt er auf und holt aus dem Nebenzimmer ein Foto. Madame Dürell steht da in dunkler Garderobe, einen aufwendigen Kopfputz über dem sorgfältig geschminkten Gesicht. Die behandschuhten Finger halten eine Zigarettenspitze. Ihre Gesten sagen: Ihr habt es hier mit einer Dame von Welt zu tun. Nur, wer ist diese Madame Dürell? "Eine Kunstfigur", erklärt Nowak-Tarnawa. "Wenn das Licht auf der Bühne erlischt, bin ich wieder Sascha." Zweieinhalb Stunden Vorbereitung braucht er, um in die Rolle der Dürell zu schlüpfen.

Weitschweifig erklärt er die Unterschiede zwischen Transsexualität, Transvestiten und Travestie. Travestie - das sind Männer, die auf der Bühne Röcke tragen. Das dient dazu, die Psyche der Frau besser zu verstehen. Oder das, was in einem selbst weiblich ist. In einem breiten Wandschrank bewahrt Nowak-Tarnawa die Kleider auf, die er und seine Schüler bei Auftritten tragen. Ein buntes Folklore-Kostüm wartet auf die nächste Tanzdarbietung. Daneben hängt ein duftiges schwarzes Kleid, liegen Fächer, Hüte und andere Accessoires. Überall im Haus wurden die launigen Bühnenutensilien auf Tische und Wandborde drapiert. Eine Türklinke hat die Form eines Fisches, und selbst der Boden des Fahrstuhls ist rot ausgeschlagen. Es scheint, als habe sich hier einer seinen Kindertraum verwirklicht, hinter den Kulissen eines Theaters ungestört stöbern zu können. Im Bad sind die Armaturen goldfarben wie in einem Hollywoodfilm. "Hier haben die Schüler Schminkunterricht", sagt Sascha Nowak-Tarnawa. Während der Einzelsitzungen lernen sie, ihr Gesicht in das eines Zebras zu verwandeln, einer Diva oder irgendeines Märchenwesens.

Vor dem Spiegel im Keller probt eine feingliedrige Person Tanzschritte. Bei all den Illusionen in diesem Haus guckt man unwillkürlich zweimal hin und traut sich doch nicht zu fragen: Ist das nun eine echte Frau? Die 27-jährige Julia erzählt, dass sie am Institut für künstlerische Ausbildung Tanzunterricht nimmt. Das befindet sich ebenfalls unter diesem Dach. Sascha Nowak-Tarnawa stellt sich neben Julia und hebt im Takt die Hände in die Höhe. Sie bewegen sich gleichzeitig nach rechts, drehen Pirouetten. Aus den USA, Deutschland, Österreich und der Schweiz kommen die Schüler. Sie sind zwischen 25 und 74 Jahre alt. Der Älteste ist ein blinder Psychologe aus Süddeutschland. Er hat erwachsene Kinder. Erst jetzt kann er seine Leidenschaft ausleben. "Wo seid Ihr vor 30 Jahren gewesen?" soll er Nowak-Tarnawa gefragt haben. Der Mann lernt tanzen, indem ihm der Lehrer durch Berührungen die richtige Richtung weist. "Dabei bin ich sein Schatten, sein Spiegel", sagt Nowak- Tarnawa.

Der Ausbildungsplan der Schule umfasst 19 Fächer, vom Flamenco bis zur Atemtechnik. Ob es sich wohl lohnt, die stolze Gebühr zu zahlen? Nowak-Tarnawa scheint sich seiner Sache sehr sicher. Und seit die "Bild"- Zeitung mitten im Sommerloch eine Lobeshymne angestimmt hat, reißt das Medieninteresse an diesem Haus kaum mehr ab. Es wurde ausgelöst, weil sich Leute angeblich über den vermeintlichen "Puff" beschwert hatten.

Nowak-Tarnawa glaubt an ein Missverständnis: Ein Bordell gebe es in der Gegend tatsächlich, aber es befinde sich in einer anderen Straße. Seit die 1995 gegründete Schule im April aus der City in die Villengegend gezogen ist, habe er mit den Nachbarn "nicht die kleinste Auseinandersetzung" gehabt. Statt über die Anwohner redet er auch lieber über seine Schüler. Erzählt, dass manche von ihren Mitmenschen gehänselt werden. "Sie bewegen sich so graziös: Da heißt es gleich, der muss doch schwul sein." Dann steht er auf und äfft nach, wie der normale Hetero-Macho läuft: breitbeinig und ungelenk. Gut, dass es zum Trost für derlei Ungemach Wesen wie Madame Dürell gibt.Weiteres unter Tel. 3628 6836

Josefine Janert

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