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Berlin: Die letzte Schranke fällt

Wenn Jens Eggebrecht seinen Posten räumt, gibt es in Berlin keinen handbetriebenen Bahnübergang mehr

Zehnmal wird Jens Eggebrecht heute die beiden Kurbeln auf seinem Posten drehen. Und zehn Sekunden später werden die beiden rot-weißen Schranken, von denen der Lack schon lange abblättert, den Bahnübergang für immer schließen. Dann beginnt ein Bautrupp mit seiner Arbeit und beendet 70 Jahre Berliner Schrankenwärtergeschichte – die Arbeiter schließen den letzten handbetriebenen Berliner Bahnübergang auf dem Ruhwaldweg zwischen Spandauer Damm und Rohrdamm.

Dort sorgt Jens Eggebrecht seit fünf Jahren für Sicherheit. Sein Büro ist ein kleines Häuschen mit Schornstein und steht nur einen Meter von den Gleisen entfernt. Von seinem Stuhl überblickt der 31-Jährige die Schienen, die eine Kleingartenkolonie durchqueren. Nur Vögel sind zu hören und in der Ferne das leise Brummen der Autos auf dem Spandauer Damm. Vor ihm stehen ein Telefon, ein Fernmeldeapparat der Reichsbahn und ein Faxgerät. Wenn sich ein Zug nähert, schrillt der Fernmeldeapparat einmal lange auf. Das Signal kommt vom Fahrdienstleiter in Pankow. Für Eggebrecht ist dann klar: Schranken runter.

Auf einem Schild an der hellgrünen Wand steht: „Schrankenwärter! In ihrer Hand liegt die Sicherheit des Verkehrs auf Schiene und Straße!“ Einnicken darf er unter keinen Umständen. Sonst könnte ein Zug den Bahnübergang bei geöffneten Schranken durchfahren.

Eggebrecht trinkt also viel Kaffee und Tee. Für Nachschub ist gesorgt, rechts neben seinem Stuhl hat er Wasserkocher und Kaffeemaschine positioniert. Auch essen muss Eggebrecht an seinem Arbeitsplatz. Er darf nicht kurz zum Imbiss um die Ecke gehen und auch ein gemütliches Mahl hinter seiner Hütte ist verboten. Immer droht die Gefahr, einen kommenden Zug zu verpassen. Radiohören oder Fernsehen sind daher verboten, nur Lesen ist erlaubt. Den 31-Jährigen stört das nicht. „Ich lese intensiv Zeitung“, sagt er und zieht an seiner Pall Mall Zigarette. Vergangenes Jahr passierten 40 Züge täglich seinen Posten. Langweilig war es da nicht. Seit einem halben Jahr ist auf seiner Strecke nichts mehr los und er raucht mehr als sonst.

Nur noch acht Züge fahren täglich an ihm vorbei. Die Bahn sperrt seinen Abschnitt die meiste Zeit, um zwei neue ICE-Gleise bis 2006 fertig zu stellen. Wenn die ICE mit 160 Stundenkilometern über die Strecke rauschen werden, ist aus Sicherheitsgründen ein Übergang auf Höhe der Gleise nicht mehr zulässig.

Allzu traurig ist Eggebrecht über den Verlust seines Schrankenpostens nicht. Vor fünf Jahren hatte er sich bereits für ein Stellwerk beworben. Doch daraus ist nichts geworden: „Die meinten, ich sei hier ganz gut aufgehoben“, sagt Eggebrecht, ein bisschen enttäuscht. Nun bietet die Bahn ihm eine Weiterbildung zum Stellwerkswärter in Köpenick an. Kurbeln muss er da nicht mehr. Dort werden Weichen elektromechanisch umgestellt. Eggebrecht wird dann Knöpfe drücken oder Hebel umlegen. Die Verantwortung bleibt dieselbe – nur sehen wird er dann nicht mehr können, was er macht. Denn die Gleise liegen nicht vor seinem Bürofenster.

Fabian Dittmann

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