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Berlin: Die Neiße drückte durch die Fensterscheiben

Die große Flut hat nun auch Brandenburg erreicht. Die Pegelstände stiegen schneller als erwartet

Erst Sachsen, jetzt Brandenburg: Das aus dem Süden kommende „Blitz-Hochwasser“ an der Neiße hat die Situation an den märkischen Abschnitten am Montag dramatisch verschärft und die Behörden überrascht. Innerhalb weniger Stunden stiegen am Montag die Pegel unweit von Forst bis an die Deichkante, teils um zwei bis drei Meter, weit schneller als erwartet und höher als beim letzten schweren Neiße-Hochwasser 1981. Am Abend wurde vorsorglich der Ortsteil Klein Bademeusel evakuiert, in dem 280 Menschen leben. Sie wurden in Hotels und einer Turnhalle der Stadt Forst untergebracht, erklärte der Forster Bürgermeister Jürgen Godlschmidt (FDP) dieser Zeitung. Zuvor waren bereits die Neiße-Deiche nahe der Ortschaft Grießen „an drei Stellen auf deutscher Seite gebrochen“, bestätigte Landesumweltamtspräsident Matthias Freude. Allerdings wurden keine bewohnten Gebiete überflutet, sondern nur Ackerflächen.

Es war der erste Tag, an dem das Hochwasser an Neiße und Spree überhaupt Brandenburg erreichte. Aber die Situation war sofort weitaus gefährlicher als beim jüngsten Oderhochwasser im Frühsommer, wo es weder Deichbrüche gegeben hatte, noch Evakuierungen nötig geworden waren. Die Pegelstände stiegen anders als bei der Oder sprungartig an, teils bis an die Deichkante, erläuterte Freude. Zum anderen sind die Deiche an Neiße und Spree, die eher selten Hochwasser führen, bislang nicht saniert worden, so dass sie sofort aufweichen und mittlerweile schon Sickerstellen befestigt werden mussten. Der Kreis Spree-Neiße rief am Mittag die höchste Alarmstufe IV für die Neiße aus. Die Kreisverwaltung in Forst war selbst unmittelbar betroffen. Sie liegt am mit der Neiße verbundenen Mühlgraben, der erstmals über die Ufer trat. Einsatzkräfte versuchten in den Nachtstunden, eine Überflutung der Keller zu verhindern – dort steht die Computerzentrale des Amtes.

Allerdings lief das Brandenburger Hochwasser-Management nach Tagesspiegel-Recherchen nicht rund. Es kam zu deutlichen Abstimmungs- und Entscheidungsverzögerungen sowie Informationspannen. Bei einem Vor-Ort-Termin am Abend unweit von Klein Bademeusel an den Deichen gab es in Anwesenheit von Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) und Umweltministerin Anita Tack (Linke) längeres Hin und Her, ob der Ort evakuiert und der Deich an einer Stelle gezielt geöffnet werden muss oder nicht. Der Forster Bürgermeister Goldschmidt wartete lange auf eine Entscheidung des zeitweise nicht erreichbaren Landrates, ob geräumt werden sollte. Auch wurden in Klein Bademeusel erst am Montag Sandsäcke gefüllt. „Das hätte zwei Tage früher beginnen können“, hieß es aus Katastrophenschutz-Kreisen.

Ministerpräsident Matthias Platzeck sprach von einer „angespannten, aber beherrschbaren Situation.“ Angesichts sich häufender Extremhochwasser forderte Tack in Abstimmung mit Platzeck und ihrem sächsischen Kollegen Frank Kupfer (CDU) den Bund auf, Verantwortung für Hochwasserschutz – bislang ist das Ländersache – als „nationale Aufgabe“ zu übernehmen. „Das ist für die nächsten Jahrzehnte strategisch nötig“, sagte Platzeck.

Auch entlang der Spree spitzte sich die Lage zu. Bei Spremberg versuchten Feuerwehr und Technisches Hilfswerk am Abend, mit 15 000 Sandsäcken und Kiesbarrieren den bedrohlich angeschwollenen Fluss im Bett zu halten. Der Wasserstand des aus der sächsischen Lausitz heranbrausenden Stromes lag in den Abendstunden etwa doppelt so hoch wie normal, stieg stündlich um etwa drei bis vier Zentimeter. Für den frühen Dienstagmorgen rechneten die Behörden mit dem Ausrufen des Katastrophenalarms. Bis dahin sollten Kipper unentwegt Kies an das Ufer schütten.

Große Hoffnungen setzt das Landesumweltamt auf die hinter Spremberg liegende Talsperre (siehe Artikel links). Hinter Cottbus schließt sich dann der wie ein Schwamm wirkende Spreewald an. Hier und in der Region in Richtung Beeskow haben die Behörden bereits unbewohnte Flächen festgelegt, in die Wassermassen abgeleitet werden sollen. Dort würden sie keine Schäden anrichten. Deshalb wird damit gerechnet, dass in Berlin selbst kaum Auswirkungen des Hochwassers zu spüren sein werden.

In Sachsen dagegen atmet man auf – nach einem dramatischen Tag. In Bad Muskau ging es tagsüber plötzlich blitzschnell, als die Neiße über die Ufer trat, Wege und Wiesen verschwanden und sich größere Flächen in Seen verwandelten. Erst standen Besucher fünf Zentimeter im Wasser, dann zehn. „Das ging aber flott“, sagte ein anwesender Beamter verblüfft. Stetig stieg der Pegel, das Kellergeschoss des Neuen Schlosses lief voll. „Wir haben aber schon im Laufe des Sonntags alle technischen Geräte ausgeräumt und in Sicherheit gebracht“, sagte ein Mitarbeiter der Stiftung. Die Sorge um Park und Schloss war am Montag groß in dem Städtchen. Seit der Wiedervereinigung waren insgesamt 25 Millionen Euro in die Wiederherstellung des ab 1815 von Hermann Fürst von Pückler-Muskau angelegten Landschaftsgartens investiert worden. Pückler hatte die Neiße hier wie einen Gebirgsfluss modellieren lassen. Jährlich kommen 200 000 Besucher. Im 775 Jahre alten Kloster Marienthal stand das Wasser zwei Meter hoch. „Die Arbeitsplätze von mehr als 100 Mitarbeitern sind durch die Katastrophe in Gefahr“, sagte ein Mitarbeiter. In Bad Muskau lagen überall Sandsäcke in den Straßen, die ein Hochdrücken von Gullydeckeln durch den Wasserdruck in der Kanalisation verhindern sollten.

Mit Podrosche und Sagar überflutete die Neiße auch zwei kleine Dörfer zwischen Görlitz und Bad Muskau. Die 80 Bewohner konnten rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. Zwei Deiche hatten dem Druck des Wassers nicht standhalten können.

In der alten Neiße-Stadt Görlitz begutachteten Behörden und Bewohner den Schaden des Vortages. Die meisten Bewohner hatten wohl Glück im Unglück. In den Hotels der Neiße-Stadt Görlitz mussten die Damen an der Rezeption am Montag ganz besonderes Überzeugungsgeschick an den Tag legen. Sie hätten doch von der Hochwasserkatastrophe im Radio gehört und dramatische Bilder im Fernsehen verfolgt, fragten die Anrufer aufgeregt. Viele äußerten gleich ihr Mitgefühl für den Verlust in der Altstadt. Doch so schlimm kam es nicht. Nur auf den Uferstraßen stand der Schlamm noch einen halben Meter. Das Wasser der Neiße hat sich zumindest in Görlitz wieder weitgehend in sein angestammtes Bett zurückgezogen. Der Glanz von Görlitz blieb nahezu unberührt. An den Uferstraßen dagegen standen Menschen mit Tränen in den Augen vor ihren Häusern. „Der Schlamm steht bis zu den Lichtschaltern“, klagte eine ältere Frau. Andere Einwohner betrachteten die Reste ihrer Autos. Die Kraft des Wassers hatte die Wagen einfach von den Straßen an Hauswände gedrückt. Einige Autos lagen auf den Dächern. Versicherungsexperten machten Fotos. „Wir ersetzen die Schäden nur bei einem tatsächlichen Unfall, also wenn das Auto wirklich an einer Wand beschädigt worden ist. Bei reinen Wasserschäden sieht es schlecht aus“, erklärte ein Makler den etwas verwirrt blickenden Besitzern. Aus vielen Häusern drang das Geräusch von Pumpen, um die dreckige Brühe aus den Zimmern im Erdgeschoss oder aus den Kellern herauszupressen. Viele Görlitzer machten einen verzweifelten Eindruck. „Der Grundwasserspiegel ist noch viel zu hoch“, sagte Herbert Wanzke. Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, ehe wieder von Normalität gesprochen werden kann.

Dagegen lief in den meisten Wohnungen seit den Mittagsstunden des Montags wieder einwandfreies Trinkwasser aus den Leitungen. Ein Wasserwerk musste nach einer Überflutung seinen Betrieb einstellen. „Nun haben wir Ersatz gefunden“, teilte eine Stadtsprecherin mit. Noch nicht absehbar sei dagegen die Höhe der Schäden. Von mehreren Millionen Euro müsse man wohl ausgehen. Bis gestern Abend konnten noch nicht alle Bewohner wieder in ihre Häuser zurückkehren.

Seine Existenz hat der Wirt des Lokals „Vierradenmühle“ verloren. Das Hochwasser der Neiße drückte hier auf seinem Höhepunkt am Sonntag einfach durch die Fenster. „Wir haben alles verloren“, sagte der 39-jährige Gastwirt Frank Lachmann. Eine Versicherung gegen Hochwasser habe er für seine „östlichste Gaststätte Deutschlands“ bei keiner Gesellschaft bekommen.

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