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Die Parteien zur Europawahl: Ein Weltraumaufzug und krumme Gurken

Wenn es um Europa geht, scheinen sich die größeren Parteien einig zu sein. Perspektivisch, solidarisch und international - diese Begriffe fielen in fast jedem Interview. Wie die Parteien diese Begriffe auslegen und was sie außerdem vorhaben, verrieten sie dem Schreiberling - der Jugendredaktion des Tagesspiegels.

Am morgigen Sonntag ist Europawahl. In Berlin sind etwa 18.000 Wahlhelfer im Einsatz, um die Stimmen zu Europa auszuwerten. Die Jugendredaktion des Tagesspiegels hat in der vergangenen Woche mit Europaexperten der Parteien gesprochen. Johanna Uekermann von den Jusos meint, dass die europäische Union mehr sei als Verordnungen über krumme Gurken. Was genau, das verraten die Vertreter der Parteien im Interview.

"Die Energiewende ist eine Win-Win-Win Situation" (Die Grünen)

Michael Cramer seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments
Michael Cramer seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments

© Jolinde Hüchtker

Michael Cramer kandidiert für die Grünen bei der Europawahl. 20 Jahre lang unterrichtete er Musik und Sport an zwei Schulen in Neukölln. Ein Gespräch über das faulste Parlament Europas, mehr Flüchtlinge und das Auto als Statussymbol.

Was ist Ihr Lieblingsplatz in Europa?

Berlin. Ich bin 1974 nach Berlin gekommen, damals hieß die Parole: „Entweder du bist nach sechs Monaten wieder weg, oder du bleibst für immer.“ Stimmte.
Wie sieht Ihr Alltag in Brüssel aus?

Wir gelten ja als das faulste Parlament Europas, dabei haben wir 42 Sitzungswochen, der Bundestag nur 23. Ich bin etwa drei Wochen im Monat in Brüssel, eine in Straßburg. Nach Brüssel fliege ich, nach Straßburg fahre ich mit der Bahn. Das ist natürlich ökologisch blöd. Ich zahle privat an die Gesellschaft “Atmosfair“ – eine freiwillige Abgabe. Meine Kerosinsteuer wird berechnet und davon werden ökologische Projekte weltweit finanziert.
In vielen EU Ländern herrscht eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent. Sieht so Europas Zukunft aus?

Viele EU-Mitgliedsstaaten, die jetzt in großen finanziellen Schwierigkeiten stecken, sind es weil sie den Banken geholfen haben und nicht, weil sie falsche Politik machen. Wir brauchen viele Fachkräfte in Europa, aber wir müssen aufpassen! Wir können nicht die ausgebildeten Ärzte aus Spanien, Portugal, Italien für uns abziehen. Denn in den Ländern fehlen sie dann.

Wir haben mit mehreren Jugendlichen aus diesen Ländern gesprochen. Manche empfanden es als Chance, ins Ausland zu gehen, manche wollten ihre Träume unbedingt im Heimatland verwirklichen. Was würden Sie ihnen empfehlen?

Wenn die Not am größten ist, ist auch die Flexibilität am größten. Die Jugendlichen sollten es sich selbst aussuchen können - und nicht gehen müssen, weil in einem anderen Land bessere Bedingungen herrschen.

Jugendlichen Perspektiven geben, Klimaschutz, so steht es im Wahlprogramm der Grünen. Sagt das nicht jede Partei?

Ein gutes Beispiel: Im Jahr 2000 sind wir mit der Rot-Grünen Koalition aus der Atomkraft ausgestiegen und haben das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht. Damals hatten wir vier Prozent erneuerbare Energien. Die größten Optimisten dachten: „Wenn wir in zehn Jahren bei zwölf Prozent sind, sind wir gut.“ Wir sind heute bei 25 Prozent.

Aber wir haben auch 400.000 neue Jobs geschaffen. Sagt mir eine Branche, in der das passiert - ich kenne keine. Eine Win-Win-Win-Situation! Als Vergleich: In der Nuklearindustrie in Deutschland haben wir nur 35.000 Jobs. Deshalb verstehe ich nicht, wenn Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen jetzt sagt, die Energiewende ist schön, aber Jobs sind wichtiger. Hat sie denn nichts kapiert?

Beschäftigen Sie neben der Umweltpolitik auch andere Themen?

Flüchtlingspolitik etwa. Es kann ja nicht sein, dass ein Mitgliedsland Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU nicht hilft, sondern dafür sorgt, dass sie ertrinken. Wir haben damit Erfahrung, wir haben vier Millionen Flüchtlinge aus der DDR in Westdeutschland aufgenommen. Auch unsere Agrarpolitik spielt eine Rolle. Durch Agrarsubventionen ist Hühnerfleisch aus der EU in Afrika billiger als das Hühnerfleisch, das Afrikaner hergestellt haben. Natürlich völlig verrückt. Dann haben die Leute dort keine Perspektive mehr und müssen abhauen.

Wofür brauchen wir die EU?

Ich werde den Klimawandel noch überleben, was mit euch ist, weiß ich nicht. Vorsicht! Der Klimawandel ist nicht durch ein Land zu stoppen, selbst wenn es so groß ist wie Deutschland.

Welche Rolle spielt Deutschland in der EU?

Deutschland ist ein starker Faktor. Wir sind eine Exportnation, die von jeder Erweiterung profitiert. Wir kriegen das Geld, das wir für die EU zahlen, vielfach zurück. Wenn Spanien, Portugal und Italien aber pleite sind und deutsche Produkte nicht mehr kaufen können, dann merken wir das sofort.

Drei Worte zur EU?

„Europa ist wie ein Fahrrad. Wenn es stehen bleibt, kippt es um.“ Okay, mehr als drei Worte, ein Zitat von Jacques Delors, zehn Jahre lang EU-Kommissionspräsident. Apropos Fahrrad – nimm Kopenhagen. Da haben sie den Fahrradanteil um 300 Prozent erhöht. Das hätte keiner für möglich gehalten. In deutschen Städten ist der Verkehr für 70 Prozent aller klimaschädlichen Emissionen verantwortlich. Das ist ein Riesenproblem.

"Ich wünsche mir einen Weltraumaufzug" (Piraten)

Julia Reda (Piraten) wünscht sich neben einem bedingungslosen Grundeinkommen auch mehr 3D-Drucker und einen Weltraumaufzug.
Julia Reda (Piraten) wünscht sich neben einem bedingungslosen Grundeinkommen auch mehr 3D-Drucker und einen Weltraumaufzug.

© CC-BY-ND bartjez

Julia Reda ist Spitzenkandidatin der Piraten für die Europawahl. Ein Interview über Angst vor der Technik, einen Weltraumaufzug und den 3D-Druck.

Wir kommen ja aus dem Internet und haben festgestellt, dass die Werte, die wir in der Onlinewelt gefunden haben, auch extrem wichtig für Europa sind. Wir wollen eine Überwindung von Grenzen, auch im kulturellen Bereich.

Zum Beispiel?

Dass manche Youtube-Videos in deinem Land nicht verfügbar sind. Oder dass Leute, die in Österreich sitzen, sich die ARD-Mediathek nicht anschauen können. Wir wollen auch einen gemeinsamen Datenschutz. Jetzt ist es z.B. so, dass Facebook seine Server nach Irland stellt, weil dort der Datenschutz-Standard besonders niedrig ist.

Was wollen die Piraten dagegen tun?

Wir glauben, dass wir zu Grundrechten, wie Datenschutz oder Zugang zu Information, bessere Regelungen in ganz Europa schaffen können. Die Überwindung von Grenzen muss auch nicht nur mit dem Internet zu tun haben. Wenn die CSU sich hinstellt und sagt "Wer betrügt, fliegt" und die Freizügigkeit von Menschen aus Rumänien und Bulgarien in Frage stellt, dann ist das ein riesiger Rückschritt für die europäische Idee.

Wie ist es mit der Wirtschaft in Europa?

Wir haben den Klimawandel, bestimmte Ressourcen werden in den nächsten Jahren an ihre Grenzen stoßen. Deshalb müssten wir eigentlich energieeffizienter werden, weniger konsumieren. Aber wenn die Leute das plötzlich machen würden, dann würde unser Wirtschaftssystem zusammenbrechen - weil es darauf angelegt ist, dass es immer ein Wachstum gibt und die Menschen mehr konsumieren.

Was ist die Alternative?

Wir halten es für ganz wichtig, da wirklich mal radikal alternative Wege aufzuzeigen und vorzuschlagen, die Existenzgrundlage von der Arbeit zu entkoppeln. Solange das nicht der Fall ist, wird jedesmal, wenn uns technische Innovationen Arbeit abnehmen können, das erst einmal als Problem angesehen, weil das Arbeitsplätze zerstört. Aber die Automatisierung von Arbeit ist ja eigentlich eine gute Sache.

In vielen EU Ländern herrscht eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent. Sieht so Europas Zukunft aus?

Der Europarat hat sich in einer Studie die Frage gestellt: Was machen eigentlich diese ganzen arbeitslosen Jugendliche den ganzen Tag? Die Studie zeigt, dass viele tatsächlich arbeiten, aber eben nicht in der klassischen Wirtschaft, wo sie für das, was sie machen, bezahlt werden. Zum Beispiel in ihren Gemeinden solche Sachen wie Urban Gardening machen, wo im öffentlichen Raum eine Selbstversorgung mit Lebensmitteln aufgebaut wird. Diese jungen Leute mit tollen Ideen werden von den Innovations-Programmen der EU aber überhaupt nicht erreicht.

Was steht sonst noch auf dem Plan der Piraten?

Ein Beispiel ist der 3D-Druck. Der kann in den nächsten Jahren die Art und Weise, wie wir leben, total verändern. Es gibt jetzt viele, gerade von den älteren Parteien, die versuchen, vor dieser Technik Angst zu machen. Da würden sich Leute Waffen ausdrucken, was totaler Quatsch ist, weil man immer noch Munition auf dem Schwarzmarkt kaufen müsste. Nach dem jetzigen Technikstand wäre es viel schwieriger, sich eine Waffe auszudrucken, als sich einfach irgendwelche gefährlichen Materialien im Baumarkt zu kaufen. Wenn man aber eine Technologie gleich im Keim erstickt, werden wir in Zukunft nicht von ihren Vorteilen profitieren können.

Wollen Sie noch etwas zum Abschluss sagen?

Ich will noch ein Projekt ergänzen: den Weltraumaufzug, der es wesentlich günstiger machen würde, im Weltraum zu forschen. Dabei wird von der Erde ein stabiles Seil zu einem Satelliten gespannt, an dem man, wie mit einem Aufzug, Material ins All bringen kann. Die europäische Raumfahrt ist heute schon eines der wenigen Projekte, bei denen Länder absolut übergreifend zusammen arbeiten.

Das hört sich ziemlich utopisch an…

…Genau darum geht es mir. Wenn sich keine Partei mal traut, irgendwas Visionäres, was utopisch klingt, überhaupt zu benennen, weil sie Angst haben davor, dass die Leute denken, das wäre Science-Fiction, dann kommen wir auch nie weiter. Dann reagieren wir immer nur auf die nächste Krise. Eigentlich soll die Politik ja gestalten und solche Visionen erst formulieren. Da sehe ich auch eine Aufgabe der Piraten.

"Die EU ist mehr als Verordnungen über krumme Gurken" (Jusos)

Johanna Uekermann, Bundesvorsitzende der Jusos.
Johanna Uekermann, Bundesvorsitzende der Jusos.

© David Fresen

Johanna Uekermann ist Bundesvorsitzende der Jusos, der Jugendorganisation der SPD. Sie freut sich über witzige SPD-Plakate.

Warum ist Ihnen persönlich die EU wichtig?

Man kann heutzutage keine Politik mehr machen, ohne an Europa zu denken. Man muss grenzüberschreitende Politik machen, um grenzüberschreitende Probleme zu lösen.

Was würden Sie gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa tun?

Ein ganz wichtiger erster Schritt ist die Europäische Jugendgarantie. Darin ist festgelegt, dass alle unter 25 spätestens vier Monaten nach ihrem Abschluss ein Jobangebot kriegen sollen.

Wie wollen Sie angesichts der NSA-Affäre versuchen, Europa bei Datenschutz und Internet unabhängiger von den USA zu machen?

Datenschutz hat leider immer noch nicht die nötige Priorität. Ich hoffe der nächste Kommissionspräsident wird sich nicht so leicht abspeisen lassen wie Frau Merkel.

Wie würden Sie versuchen, das Problem mit den Flüchtlingen an den Grenzen der EU zu lösen?

Ich bin dafür, mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten zu schaffen. Es kann nicht sein, dass tausende Menschen vor unseren Grenzen ertrinken. Außerdem sollte man dafür sorgen, dass es den Flüchtlingen, die hierher kommen, besser geht.

Was würden die Jusos im Wahlkampf anders machen als die SPD?

Diesmal hab ich gar nicht viel auszusetzen, ich hätte mir vielleicht noch ein bisschen griffigere Slogans für die Plakate gewünscht.

Ein Wahlplakat, das Sie schlecht fanden und eins, das Sie lustig fanden?

Ganz witzig fand ich, was die SPD plakatiert: „Wir verstecken unseren Spitzenkandidaten nicht“. Es stimmt halt wirklich, man sieht auf den CDU-Plakaten nur Merkel und nirgendwo Juncker.

Wie würden Sie, angesichts der immer geringeren Wahlbeteiligung, mehr Leute ins Wahllokal locken?

Wir versuchen zu vermitteln, dass die EU mehr ist als Verordnungen über krumme Gurken.

Was denn?

Reisefreiheit, niedrigere Roaming-Kosten und noch viel, viel mehr. Wir als Jusos versuchen online und offline natürlich insbesondere junge Menschen anzusprechen und sie zum Wählen zu motivieren, denn ihre Zukunft wird in Brüssel entschieden.

"Eine Partei ist keine Liebesbeziehung" (AfD)

Gustav Greve wollte sich nicht von uns fotografieren lassen, daher-
Gustav Greve wollte sich nicht von uns fotografieren lassen, daher-

© privat

Gustav Greve ist Mitglied des Bundesvorstandes der AfD und leitet in Berlin den „Arbeitskreis Europapolitik“. Außerdem war er in der „Großen Europakommission“, die das Europaprogramm der AfD erarbeitet hat.

Herr Greve, warum haben Sie 2007 die CDU verlassen?

Die CDU hatte sich bis dahin - und das hat sie fortgesetzt - von einem großen Teil ihrer Grundüberzeugungen entfernt, wie Soziale Marktwirtschaft, Leistungsorientierung, Soziale Zuwendung für Gegenleistung. Es gab zusätzlich den Grund, dass zu der Zeit in der Berliner CDU nahezu Führungschaos herrschte.

Und bei der AfD sind Sie glücklicher?

Ja. Eine Partei ist keine Liebesbeziehung, sondern vielmehr eine unglaublich intensive Beschäftigung. Man kann sehr viel Zeit damit verbringen, theoretische Ideen zu bereden, was mir aber an der AfD gut gefällt, sind die Menschen.

Wird das denn auch bei weiteren Wahlerfolgen der AfD so bleiben?

Erfolg gibt Freude und Erfolg gibt Recht. Und mit jedem Misserfolg würde möglicherweise diese Energie schrumpfen. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir durch die Wahlergebnisse der Europawahl am 25. Mai den Schwung sogar erhöhen.

Zum Europaprogramm: In vielen EU-Ländern herrscht eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent.

Das scheint sich auch leider so zu stabilisieren.

Was gedenken Sie, dagegen zu unternehmen?

Gerade zu diesem Punkt äußern sich alle großen Parteien sehr schwammig. Es ist offensichtlich die Folge einer verfehlten Wirtschafts- und Strukturreform in den betroffenen Ländern und damit wiederum eine Folge des Euro. Diese Erkenntnis hilft nur den Jugendlichen nicht. In dem entscheidenden Alter wird jungen Menschen gesagt, dass sie keine Perspektive in ihrem Land haben - und das im wohlhabenden Europa!

Insofern ist ein weiterer Gedanke, den deutschen Arbeitsmarkt für Jugendliche aus den betroffenen Ländern zu öffnen. Es gibt leider auch bei der AfD nicht das Patenrezept dagegen, zumal wenn es nicht gelingt, die Wirtschaft nach vorne zu bringen.

Das Urproblem ist die Wirtschaft?

Das Urproblem ist der Euro! Denn in dem Maße, wie ein Land nicht über die Variabilität einer Währungsstärke oder -schwäche verfügen kann, verliert es an Wettbewerbsfähigkeit. Selbst die Basisindustrie der südeuropäischen Länder, der Tourismus, leidet unter dem Euro. Wenn man in Griechenland für einen Kaffee drei Euro zahlt wie bei uns, dann kann man sich das als weniger wohlhabender Reisender nicht leisten. In der Folge liegt der Tourismus in dem entsprechenden Land brach.  In dem Moment, wo ein Land aber den Euro zeitweise verlässt, kann die Währung „atmen“ und damit auch die Importe und Exporte.

Deutschland geht es wirtschaftlich gut, warum raus aus dem Euro?

Die Meinung der AfD ist: Wir wollen nicht, dass Deutschland aus dem Euro aussteigt, sondern die Länder, die ein Problem haben, sollen die Möglichkeit haben, aus dem Euro gegebenenfalls temporär auszusteigen.

Ist die AfD für eine Europäische Union?

Ja, weil wir von der europäischen Idee, dass Völker grenzenlos leben können, Berufsabschlüsse überall anerkannt werden, es eine Freizügigkeit des Wohnens gibt, überzeugt sind. Wir sind auch dafür, dass es eine gemeinsame europäische Außenpolitik geben muss, soweit sie den Interessen Europas insgesamt dient.

"Ja zur Europäischen Union, Nein zur jetzigen" (Die Linke)

Martina Michels (59) ist Europakandidatin der Partei Die Linke.
Martina Michels (59) ist Europakandidatin der Partei Die Linke.

© Tizian Strache

Martina Michels kandidiert für die Linkspartei. Sie hat Philosophie an der HU Berlin studiert und sitzt seit September 2013 im Europaparlament.

Warum wollen Sie wieder ins Europaparlament? Macht es so viel Spaß in Brüssel?

Ich habe mich immer schon mit internationalen Fragen beschäftigt, das macht mir Spaß. Ich habe Philosophie studiert und sage mal: Weltanschauung kommt von Welt anschauen.

Wie sieht Ihr Alltag in Brüssel aus?

Im Parlament muss unter anderem die Europäische Kommission ihre Anliegen vorstellen, dann wird darüber diskutiert, ähnlich wie im Bundestag. Außerdem gibt es die Möglichkeit von eigenen Initiativen, das haben wir als Linke zum Beispiel mit der Forderung nach einem Recht auf ein eigenes Bankkonto gemacht.

In vielen Ländern der EU herrscht eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent. Sieht so Europas Zukunft aus?

Wenn Europa eine Zukunft hat, dann sind gute Programme für die Jugendlichen das A und O. Zustände wie in Spanien, Portugal, Griechenland oder Italien sind ein Armutszeugnis für die EU.

Wie will die Linkspartei das lösen?

Wir fordern ein Investitionsprogramm für die Schaffung von Arbeitsplätzen, gerade für junge Leute.

Würden Sie es Jugendlichen empfehlen, zum Arbeiten ins Ausland zu gehen oder zu Hause zu bleiben?

Wenn Merkel nach Spanien reist und sagt, wir brauchen Arbeitskräfte in dieser oder jener Branche, dann ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Das löst vielleicht in dem Moment das Problem für einzelne spanische Jugendliche, aber man kann das Problem nur mit der Schaffung von Arbeitsplätzen in regionalen Wirtschaftskreisläufen lösen.

Mit welchem Geld soll das passieren?

Na, es ist ja nicht so, dass die EU kein Geld hat. Es muss einfach eine Umverteilung stattfinden. Wir sind für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die die Banken an der Wirtschaftskrise beteiligen soll. Durch diese Art Umverteilung hat die EU eine ganze Menge an Reserven. Die Rettungsschirme retten vor allem die Banken, die sind geknüpft an Sozialkürzungen, die nicht dazu führen, dass die Wirtschaft oder die Kaufkraft angekurbelt werden.

Da machen wir den Vorschlag, künftige Kredite für schwache Länder an soziale Bedingungen und auch an die Kürzung der Rüstungsausgaben zu knüpfen.

Das ist ja alles sehr kompliziert. Wofür braucht man denn die EU überhaupt?

Es gibt ja heute schon kaum noch national geprägte Industrie. Frankreich macht nicht mehr französische Autos, sondern alles was produziert wird, ist heute global. Also gibt es auch keine nationalen Lösungen mehr. Wenn also in einen Mitgliedsland Löhne gekürzt werden, wirkt sich das auch auf die anderen Länder aus, weil die Belegschaft europäisch ist. Da braucht man europäische Lösungsansätze.

Im vorläufigen Wahlprogramm hieß es: „Die europäische Union ist seit dem Vertrag von Maastricht eine neoliberale, undemokratische und militaristische Macht.“ Was will die Linke dagegen tun?

Wir sind europakritisch, was auf gar keinen Fall europafeindlich heißt. Ja zur Europäischen Union, Nein zur jetzigen. Die Europäische Union geht von einem falschen Grundgedanken aus. Wenn im Mittelpunkt die Schaffung eines gemeinsamen wettbewerbfähigen Binnenmarktes steht, dem alle anderen nicht-wirtschaftlichen Interessen untergeordnet sind, ist das der falsche Weg. Eine Europäische Union der Zukunft braucht eine Sozialstaatsgarantie.

Drei Abschlussworte zur EU?

Gelebte internationale Solidarität. Jetzt könn' wa' Kaffe trinken.

"Europa: Billigflieger und Interrail" (FDP)

Alexander Graf Lambsdorff ist der Spitzenkandidat der FDP für die Europawahl.
Alexander Graf Lambsdorff ist der Spitzenkandidat der FDP für die Europawahl.

© promo

Alexander Graf Lambsdorff (FDP) sitzt seit 2004 im Europaparlament. Bei dieser Wahl tritt er als Spitzenkandidat seiner Partei an.

Was glauben Sie: Werden in diesem Jahr viele Europäer wählen gehen?

Durch den Wegfall der Drei-Prozent-Hürde reicht schon ein Prozent, um nach dem Europawahlrecht, in das Parlament zu kommen. Deshalb hoffe ich, dass alle Demokraten wählen gehen, damit keine Neonazis von der NPD ins Parlament kommen.

Es gibt mittlerweile eine große Skepsis in Europa gegenüber der EU. Wie kann man dem entgegenwirken ?

Überall in Europa gibt es eine gewisse Politikverdrossenheit. Das macht natürlich vor der Europawahl nicht Halt. Die Gründe, warum die Europäische Union kritisiert wird, sind ganz unterschiedliche. Wir haben das Gefühl, dass die EU zu viel kleinteiligen Kram wie Kaffeemaschinen, Glühbirnen oder Staubsaugermotoren reguliert.

In Griechenland würden sich einige Menschen bestimmt über Kaffeemaschinen freuen.

In Südeuropa wird Unmut eher dadurch ausgelöst, dass Reformen, die jetzt durchgeführt werden, lange verzögert worden sind. Die Wettbewerbsfähigkeit muss gesteigert werden, sodass gute Arbeitsplätze entstehen können.

Es gibt Länder wie etwa Spanien mit einer Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent. Was sind geeignete Maßnahmen dagegen?

Spanien produziert sehr gute Lebensmittel, genau wie Italien, Portugal, Griechenland und Frankreich. Deshalb ist es wichtig, dass man die Märkte für den Lebensmittelhandel öffnet. Das Freihandelsabkommen mit Amerika ist eine große Chance, gerade für Arbeitsplätze in diesen Ländern.

Wie kann man heute die Jugend für Europa begeistern?

Europa, das ist Reisefreiheit, das ist das Erasmus-Programm: studieren wo man will, arbeiten wo man will. Das ist Interrail, das sind Billigflieger, eine Riesenauswahl in jedem Supermarkt, jedes Produkt aus ganz Europa.

Man kann nicht erwarten, dass eine Begeisterung für den Bundestag oder die Bundesregierung ausbricht, aber ich finde es schön, wenn wir uns für Deutschland begeistern, weil es ein schönes Land ist und wir hoffentlich Weltmeister werden bei der kommenden WM.

Und wie könnten Sie die Jugend für die FDP begeistern ?

Unsere liberale Politik eröffnet wirklich Chancen für junge Leute, sie schafft Arbeitsplätze, die echt sind, keine Strohfeuer, die durch Schulden finanziert sind, sondern auf Wettbewerbsfähigkeit beruhen.

Was finden Sie persönlich an der Arbeit im EU-Parlament interessant?

Zweierlei Dinge. Erstens: Für mich als Parlamentarier ist es toll, nicht Gesetze für 80 Millionen, sondern für 500 Millionen Menschen zu machen. Das zweite: Ich lerne immer neue Leute kennen, aus allen Ländern der Europäischen Union. Da kriegt man unheimlich viel mit und arbeitet in vielen verschiedene Sprachen, multikulturell, das macht einfach Spaß.

Was sprechen Sie denn für Sprachen?

Also sprechen kann ich Englisch, Französisch, ein bisschen Spanisch und verstehen tu ich dann noch Niederländisch. Und dann natürlich Deutsch.

"Wir müssten Jean-Claude Juncker plakatieren" (CDU)

Hildegard Bentele (CDU) wünscht sich Plakate mit dem Spitzenkandidaten der EVP, Jean-Claude Junker.
Hildegard Bentele (CDU) wünscht sich Plakate mit dem Spitzenkandidaten der EVP, Jean-Claude Junker.

© Antonia Bretschkow

Hildegard Bentele ist die europa- und schulpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin und kandidiert für das Europaparlament.

 Warum wollen Sie ins Europäische Parlament?

Ich sehe, dass dort mittlerweile viele wichtige Entscheidungen getroffen werden und daher meine ich, dass es wichtig ist, jemanden in dieses Parlament zu schicken, der eine Verbindung zwischen Berlin und Brüssel herstellt. Es ist wichtig, Bürgernähe zu bewahren.

Warum ist die EU wichtig?

Es gibt heutzutage viele grenzüberschreitende Themen, etwa die Umweltpolitik, dafür benötigen wir internationale Kooperation. Obwohl es natürlich immer noch genug Fragen gibt, die sich besser in Deutschland regeln lassen.

Was tun Sie gegen die schwache Wahlbeteiligung bei der Europawahl?

Ich persönlich gehe an Schulen oder in Diskussionsrunden, um die Menschen aufzuklären. Es ist doch schade, seine demokratischen Möglichkeiten nicht zu nutzen.

Außerdem besteht die Gefahr, dass rechtsextreme Parteien, die die Europäische Union abschaffen wollen, in das Parlament einziehen. Wir aber wollen Europa weiter gestalten.

Das Motto auf den Wahlplakaten der CDU lautet „Gemeinsam erfolgreich in Europa“. Was soll das bedeuten?

Gemeinsam bedeutet, dass alle 28 Staaten gemeinsam an einem Strang ziehen. Erfolgreich heißt, dass die EU ihre hohen Standards an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand beibehält und immer weiter verbessert.

Obwohl Angela Merkel bei der Europawahl nicht kandidiert, ist sie fester Bestandteil Ihrer Werbekampagne.

Ja, das ist in der Tat eine Inkonsequenz unserer Kampagne, mit der ich selbst nicht glücklich bin. Ich fände es richtig, unseren Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker zu plakatieren.

Welche Rolle spielt Deutschland in Europa?

Deutschland stellt im Parlament die größte Gruppe von Abgeordneten und kann somit wichtige Impulse geben. Entscheidungen können jedoch nur in einer Koalition getroffen werden. Wichtige Impulse geben wir zurzeit zum Beispiel im Bereich Bildung durch das Programm Erasmus+, dort liegt die Zukunft Europas.

Drei Worte zur Zukunft Europas?

Mehr Wohlstand, mehr Mitbestimmung, Mehrsprachigkeit.

Die vollständige Serie zur Europawahl sehen Sie auf dem Blog "Schreiberling - die Jugendredaktion des Tagesspiegels", der demnächst auf tagesspiegel.de umzieht.

Jolinde Hüchtker, Cyrill Callenius, David Fresen, Max Deibert, Simon Grothe, Xenia Heuss, Antonia Bretschkow

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